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Leitlinie „Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir“ der DGN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 05.12.2020
Ablaufdatum: 04.12.2025
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-006.html

Definition

  • unspezifisches, polymorphes, hirnorganisches Syndrom, welches nicht allein durch Intoxikation mit Alkohol oder psychotropen Substanzen verursacht wird
  • charakterisiert durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und mindestens zwei der nachfolgend genannten Störungen: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Dauer sehr unterschiedlich und der Schweregrad reicht von leicht bis zu sehr schwerStörungen der Aufmerksamkeit und Bewusstseinsstörungen sowie ggf. zusätzliche kognitive Defizite müssen auftreten
  • potenziell lebensbedrohliche Erkrankung mit einer Letalität von über 30 % und tritt mit zunehmendem Lebensalter immer häufiger auf und bedarf umgehender Diagnostik und Therapie zur Vermeidung sekundär verbleibender kognitiver Einschränkungen
  • klinisch v. a. definiert als akut und fluktuierend auftretende Verwirrtheit, Vorhandensein von Aufmerksamkeitsstörungen und einer vorliegenden organischen Genese, also keiner psychiatrischen Grunderkrankung
  • Alkoholentzugsdelir
    • potenziell lebensbedrohliche akute Folge des chronischen Alkoholismus mit psychotischer und neurovegetativer Symptomatik
    • Kernsymptome des Alkoholentzugsdelirs umfassen vorübergehende qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen und kognitive Defizite
    • durch die im Vgl. zu den o. g. Delirien andere Pathophysiologie unterscheiden sich auch die therapeutischen Prinzipien des Alkoholentzugsdelirs

Klassifikation

  • Unterscheidung in Delir ohne Demen, Delir bei Demenz sowie postoperatives Delir oder gemischtes Delir
  • hyperaktives Delir (gesteigerte motorische Unruhe und Rastlosigkeit; ungeduldiges, eventuell aggressives Verhalten) sollte vom hypoaktiven Delir abgegrenzt werden (motorische und kognitive Verlangsamung, reduzierte Aktivität, Antriebslosigkeit bis hin zur Apathie)
  • Alkoholentzugsdelir
    • unvollständiges Delir (sog. Prädelir, bei Alkoholabhängigkeit synonym kompliziertes Entzugssyndrom): vorübergehende, zumal abendliche Halluzinationen oder eine leichte vegetative Symptomatik mit Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Schwitzen und vorwiegend morgendlichem Tremor, zudem fakultativ epileptische Anfälle vom Grandmal-Typ
    • vollständiges Delir (Delirium tremens bei Alkoholentzugsdelir) weist Aufmerksamkeits-, Bewusstseins-, affektive und Orientierungsstörungen, Übererregbarkeit und Symptome der halluzinatorischen Psychose (illusionäre Verkennungen, optische und taktile Halluzinationen, Suggestibilität) und eine vegetative Entgleisung (Hyperthermie, Hypertonie, Tachykardie, Hyperhidrose, Tremor) sowie Symptome der metabolischen Entgleisung (Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, Hyponatriämie etc.) auf
    • lebensbedrohliches Delir macht 7 % aller Alkoholentzugsdelirien aus mit der Symptomatik des vollständigen Delirs und ist bestimmt von schweren, vor allem kardialen und pulmonalen Komplikationen, Hyperthermie und schweren quantitativen Bewusstseinsstörungen

obligate Symptomatik

  • akuter Beginn und fluktuierender Verlauf
  • Aufmerksamkeitsstörung
  • Bewusstseinsstörung und/oder kognitiv-emotionale Störungen

Diagnostik & Anamnese und klinische Untersuchung

Diagnostik

  • medizinischer Notfall, weshalb zügige klinische Diagnose essenziell ist
  • Diagnose Delir erfordert weiterhin ärztliche klinische und ggf. apparative Diagnostik, damit organische Hirnerkrankungen mit deliranten Symptomatik nicht verkannt und Ursachen abgestellt werden
  • wichtigster erster diagnostischer Schritt ist die exakte Anamnese und Erhebung der Fremdanamnese, inklusive Kenntnis der Medikamenten-, Alkohol- sowie Drogenanamnese, dann folgt die allgemeine und neurologischpsychiatrische körperliche Untersuchung, ergänzt durch apparative Verfahren (v. a. Labordiagnostik, ggf. zerebrale Bildgebung); Überdiagnostik ist häufig und sollte vermieden werden

Anamnese

  • Demenz oder neuropsychiatrische Erkrankungen?
  • häusliche Situation, vorbestehende Pflegegrade?
  • vorausgegangene Erkrankungen (wenn möglich)?
  • exakte Medikamentenanamnese inklusive Over-the-counterPräparate (OTC)
  • Drogenanamnese
  • bei Alkoholentzugsdelir: vorausgegangene Entzüge, Delirien? Manchmal korrekte Angabe des Alkoholkonsums, häufig Dissimulation durch Patient und Angehörige
  • Kopfschmerzen (z. B. als Hinweis auf ein subdurales Hämatom)

klinische Untersuchung

  • hypo- oder hyperaktives Delir?
  • fokal-neurologische Symptome? Zeichen der Mangelernährung und Exsikkose?
  • Infektionszeichen inklusive Meningismus?
  • Wunden und Prellmarken, Sturz- und Stoßverletzungen?
  • bei V. a. Alkoholentzug:
    • manchmal Foetor alcoholicus
    • zerebelläre Symptome (zentrale Ataxie, Dysarthrie, sakkadierte Blickfolge, Rebound, Dysmetrie)
    • kognitive Störungen (mnestisches Syndrom)
    • Zeichen der Leberdysfunktion: Lebervergrößerung, faziale Teleangiektasien, Gerinnungsstörung, Ikterus u. a.
    • Stammfettsucht und distale Muskelatrophien, Mangelernährung
  • bei Abklärung des Delirs und des akuten Verwirrtheitszustands folgende Erkrankungen berücksichtigen:
    • Intoxikationen (z. B. bei Kokain-, Stimulanzien-, Cannabis-, Lösungsmitteloder Halluzinogenmissbrauch)
    • Pharmakogene (L-Dopa) und toxische Psychosen, anticholinerges und serotonerges Syndrom
    • primär psychiatrische Erkrankungen (z. B. schizophrene Psychose, Manie, aber auch somatoforme oder psychogen-dissoziative Symptome)
    • Alkoholfolgeerkrankungen: Wernicke-KorsakowSyndrom, Alkoholhalluzinose
    • traumatische zerebrale Läsionen (Hirnkontusion, subdurales Hämatom nach initialem epileptischem Anfall oder Sturz in der Alkoholintoxikation)
    • posthypoxische, posthypoglykämische Enzephalopathien
    • metabolische (hepatische, renale) und endokrine (hyperthyreote) Enzephalopathien
    • epileptisch-postiktuale Syndrome, nicht konvulsiver Status epilepticus
    • septische Enzephalopathie
    • Entzündungen des ZNS: virale oder bakterielle Enzephalitis/Meningoenzephalitis
    • autoimmune Enzephalitiden (durch NMDA-Antikörper oder andere antineuronale Antikörper, z.B. paraneoplastisch oder autoimmunbedingt)
    • transiente globale Amnesie (TGA)

Therapie

  • bedarf stationärer Behandlung (Monitorüberwachung auf einer Intermediate Care Station ist bei Patienten mit schwerer Ausprägung des Delirs und vegetativer Symptomatik notwendig)
  • Patienten mit Alkoholentzugsdelir und ausgeprägten Entzugssymptomen (mindestens ab unvollständigem Delir, „Prädelir“) sind stationär zu behandeln, besonders Patienten mit komplizierten Verläufen in der Anamnese (z.B. Entzugsanfälle oder prolongierte Delirien)
  • Behandlung lebensbedrohliches Alkoholentzugsdelir ist obligat
  • Vorgehen
    • ruhige, gut beleuchtete Umgebung
    • Kontrolle der Vitalfunktionen
    • sicherer venöser Zugang
    • adäquate Überwachung und Patientensicherung, ggf. Klärung der Rechtsgrundlage (in Deutschland nach länderspezifischem PsychKG oder Betreuungsgesetz)
    • Fixierung vermeiden, nur in absoluten Ausnahmesituationen bei Eigenoder Fremdgefährdung
    • bei Exsikkose: angepasste Flüssigkeitszufuhr i. v.

Therapie Alkoholentzugsdelir

  • manifestes Delir bei Alkoholentzug Benzodiazepine p.o. oder Clomethiazol allein
  • bei sehr schwerem, lebensbedrohlichem Delir reicht orale Behandlung nicht aus, intravenöse Kombinationstherapie notwenig
    • Diazepam oder Midazolam i.v. kann nur offlabel mit Haloperidol (seit 2017 kontraindiziert) kombiniert werden, alternativ mit i. m. Haloperidol
  • lebensbedrohliches Delir im Alkoholentzug mit intensivpflichtigen Organinsuffizienzen/ Hyperthermie
    • Diazepam plus Haloperidol
      • 120 – 240 mg Diazepam i. v. pro Tag (kontinuierlich oder als Boli)
      • 3 – 6x tägl. 5 (in Ausnahmen 10) mg Haloperidol i. m.
    • Midazolam plus Haloperidol
      • bis zu 20 mg Midazolam pro Stunde, nach Wirkung
      • 3 – 6x tägl. 5 (in Ausnahmen 10) mg Haloperidol i. m.
Published inLeitlinien kompakt

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