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Leitlinie „Demenzen“ der DGPPN (Update 2023)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 28.11.2023
Ablaufdatum: 28.11.2024
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-013

Grundsätzliches

  • 10,5 % der deutschen Bevölkerung im Alter > 65 Jahre an einer Demenz erkrankt, also etwa 1,8 Millionen Personen
  • Frauen sind häufiger betroffen als Männer (v.a. wegen höherer Lebenserwartung)
  • bis 2060 laut Schätzungen 1,6 bis 3,3 Mio. Menschen mit Demenz in Deutschland
  • zum Todeszeitpunkt leider 50 % der > 85-Jährigen an einer Demenz
  • Demenzerkrankungen nehmen mit steigendem Alter exponentiell zu
    • 0,1 % bei den < 65-Jährigen
    • 13 – 16 % im Alter von 80 bis 84 Jahren
    • 49 – 58 % im Alter von 100 Jahren und älter
  • häufigste Ursache für ein Demenzsyndrom
    • Alzheimer-Krankheit (60 – 80 %)
    • vaskuläre Demenz (ca. 5 – 10 %)
    • seltener Demenz bei Parkinson-Krankheit, Demenz mit Lewy-Körpern oder frontotemporale Demenz (mit steigendem Alter immer häufiger Mischpathologien)
  • altersspezifische Inzidenz
    • 0,14 je 100 Personen im Alter von 50 – 64 Jahren
    • 0,2 – 0,6 je 100 Personen im Alter von 65 – 69 Jahren
    • 4,2 – 9,7 je 100 Personen im Alter von 85 – 89 Jahren
    • 11,9 je 100 Personen im Alter > 95 Jahre
  • durchschnittliche Erkrankungsdauer von ca. 12 – 14 Jahren, inklusive präklinische und prodromale Phase
    • 2 – 15 Jahre in der präklinischen Phase
    • 3 – 7 Jahre in der prodromalen Phase
    • 2 – 6 Jahre im milden Stadium
    • 1 – 7 Jahre im moderaten bzw. schweren Stadium
  • Versorgungskosten
    • 13.719 € für zu Hause lebende Menschen mit Demenz (Anteil von 19 %)
    • 43.670 € für im Pflegeheim lebende Menschen mit Demenz (Anteil von 65 %)
    • Versorgungskosten der Demenz 2020 in Deutschland: 20.400.000.000 € (Anteil von 4,7 % an allen Krankheitskosten)

Definitionen

  • Demenz = Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, inkl. Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache & Urteilsvermögen, aber ohne getrübtes Bewusstsein
  • Demenz bei Alzheimer-Krankheit = primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie und charakteristischen neuropathologischen & neurochemischen Merkmalen (meist schleichender Beginn & langsame Entwicklung)
  • vaskuläre Demenz = Ergebnis einer Infarzierung des Gehirns als Folge einer vaskulären Krankheit (Infarkte meist klein, kumulieren aber in ihrer Wirkung; Beginn i.d.R. im späteren Lebensalter)
  • frontotemporale Demenz (Demenz bei Pick-Krankheit) = progrediente Demenz mit Beginn im mittleren Lebensalter, charakterisiert durch frühe, langsam fortschreitende Persönlichkeitsänderung und Verlust sozialer Fähigkeiten, gefolgt von Beeinträchtigungen von Intellekt, Gedächtnis und Sprachfunktionen mit Apathie, Euphorie und gelegentlich auch extrapyramidalen Phänomenen

Einwilligungsfähigkeit und Aufklärung bei Menschen mit Demenz

  • Aufklärung und Einwilligung sind Teil der Pflicht zur Dokumentation der Diagnostik oder Behandlung (§ 630f Abs. 2 Satz 1 BGB)
  • zeitlichen Rahmen für Aufklärung und Prüfung der Einwilligungsfähigkeit an das Tempo des Menschen mit Demenz anpassen und klare, in der Komplexität reduzierte Sprache einsetzen

Aufklärung bei Menschen mit Demenz

  • Gesetz sieht mündliche Aufklärung mit der Möglichkeit im persönlichen Gespräch mit der behandelnden Person ggf. Rückfragen zu stellen vor (CAVE: Aufklärungsformulare sind weit verbreitet, können jedoch Gespräch nur ergänzen)
  • Aufklärung soll alle relevanten Informationen vermitteln, die für Entscheidung über Einwilligung von wesentlicher Bedeutung sind, dazu zählen:
    • Wesen, Zweck, Art, Umfang & Dauer der diagnostischen Maßnahme oder Behandlung und ihrer Durchführung
    • zu erwartende Folgen, Nebenwirkungen (z.B. Schmerzen und Unwohlsein)
    • Risiken der diagnostischen Maßnahme oder Behandlung
    • Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung & Erfolgsaussichten bzw. zu erwartende Vorteile der diagnostischen Maßnahme oder Behandlung
    • Alternativen zur Maßnahme, sofern mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können
  • keine Aufklärung notwendig, wenn diese ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände entbehrlich, also z.B. bei Unaufschiebbarkeit oder Aufklärungsverzicht (§ 630e Abs. 3 BGB)
  • gemäß § 630e Abs. 2 Nr. 2 BGB ist eine eingehende Abwägung zu ermöglichen (CAVE: Zeitrahmen ist einzelfallabhängig)
  • sofern Aufklärung nicht zum rechten Zeitpunkt erfolgt, ist sie zwar nicht ordnungsgemäß, aber die erteilte Einwilligung aber nicht ohne Weiteres unwirksam (abhängig von unzumutbarer Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit)
  • CAVE: unzutreffende/unvollständige Aufklärung selbst aus altruistischen Motiven führt zur Unwirksamkeit der Einwilligung und zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs

Prüfung der Einwilligungsfähigkeit

  • Demenz-Diagnose schließt die Einwilligungsfähigkeit nicht prinzipiell aus
  • Einwilligungserklärung unterliegt nicht der Schriftform und kann auch mündlich, sowohl ausdrücklich als auch durch schlüssiges Verhalten, erklärt werden
  • Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit soll die folgenden Bereiche bei der betroffenen Person beurteilen und diese Bewertungen in das Gesamturteil mit einbezogen werden:
    • Informationsverständnis (Prüfung, ob Patient*innen eigenes Verständnis davon entwickeln können, worüber sie zu entscheiden haben und worin die Risiken und potenzielle Nutzen bestehen, z.B. „Können Sie bitte mit eigenen Worten wiedergeben, was Sie verstanden haben?“)
    • Krankheits- & Behandlungseinsicht (Prüfung, ob Patient*innen erkennen, dass ihre physische/psychische Gesundheit eingeschränkt ist und Möglichkeiten zur Behandlung oder Linderung der gesundheitlichen Problematik bestehen, z.B. „Wie beurteilen Sie aktuell Ihren Gesundheitszustand?“)
    • Urteilsvermögen (Prüfung, ob Patient*innen in der Lage sind, erhaltene Informationen und mögliche Behandlungsfolgen mit Lebenssituation, Wertvorstellungen & Interessen in Verbindung zu bringen sowie diese zu gewichten und zu bewerten, z.B. „Was sind aus Ihrer Sicht die Vorteile der Behandlung/Untersuchung für Sie?“)
    • Kommunizieren einer Entscheidung (Prüfung, ob Patient*innen Entscheidung treffen und kommunizieren können, z.B. „Könnten Sie mir bitte noch einmal klar sagen, welche Entscheidung Sie getroffen haben, nachdem wir alles besprochen haben?“)
  • Wille muss auf Grundlage der erhaltenen Informationen frei, d.h. ohne innere oder äußere Zwänge, gebildet werden
  • Einwilligungsunfähigkeit ist dann anzunehmen, wenn min. eines der genannten Kriterien nicht ausreichend erfüllt wurde
  • Nutzung strukturierter Instrumente zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit (z.B. MacCAT-T) ergänzend zur klinischen Bewertung der Einwilligungsfähigkeit in unklaren Fällen
  • im Notfall wie z.B. Bewusstlosigkeit, wenn Einwilligung nicht rechtzeitig einholbar, darf diese ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen der Patient*innen entspricht (§ 630d Abs. 1 Satz 4 BGB; CAVE: gilt auch, wenn die Patient:innen einwilligungsunfähig sind)
  • Behandlungsmaßnahmen, die in unaufschiebbarer Notfallsituation ergriffen wurden, müssen nach Beendigung der Notfallsituation daraufhin überprüft werden, ob sie weiter indiziert und vom Willen bzw. Wunsch der Patient*innen umfasst sind

Vorgehen bei Einwilligungsunfähigkeit

  • wenn Patientenverfügung vorhanden, so ist zu prüfen, ob…
    • … sie formgültig errichtet und nicht widerrufen wurde (schriftlich vorliegend und unterschrieben; CAVE: notarielle Beurkundung ist nicht erforderlich)
    • … sie auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation (noch) zutrifft
    • … sie hinreichend bestimmt ist, insbesondere betreffend lebenserhaltende Maßnahmen
  • wenn (unabhängig davon, ob eine Patientenverfügung vorhanden ist oder nicht) eine Vertretung der Patient:innen bestellt, so ist zu prüfen, ob die Bestellung wirksam ist und die Entscheidungsbefugnis Gesundheitsfragen umfasst sowie dann zu erörtern, ob eine anzuwendende Patientenverfügung vorliegt oder nicht

Therapie

  • keine durch höherwertige Evidenz gesicherte medikamentöse Behandlungsempfehlung für Therapie von Angst und Angststörungen bei Menschen mit Demenz möglich
  • Risperidon als 1. Wahl oder Haloperidol als 2. Wahl zeitlich begrenzt und in möglichst geringer Dosis bei medikamentöser Behandlungsnotwendigkeit von psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen)
  • bei medikamentöser Behandlungsnotwendigkeit von psychotischen Symptomen bei Menschen mit Lewy-Körpern oder bei M. Parkinson Einsatz von Clozapin
  • bei pharmakologisch behandlungsbedürftigem agitiertem/aggressivem Verhalten Risperidon als 1. Wahl oder Haloperidol als 2. Wahl zeitlich begrenzt einsetzen (alternativ Citalopram erwägen)
  • bei massiver Agitation und Aggression sei auf die S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“ verwiesen
    • Risperidon oral zur Notfallbehandlung von älteren Menschen mit Demenz
    • alternativ Haloperidol i.m., Melperon oder Pipamperon
    • Dosierungen dabei der körperlichen Gesamtsituation anpassen
  • keine durch höherwertige Evidenz gesicherte medikamentöse Behandlungsempfehlung für die Behandlung von unangemessenem oder enthemmtem Verhalten (z.B. sexueller Enthemmung, Hyperphagie, Verschlucken von nicht Essbarem
  • keine spezifischen Empfehlungen für Demenz in Bezug auf die Therapie epileptischer Anfälle
Published inLeitlinien kompakt

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