veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Diabetes Gesellschaft
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 15.11.2023
Ablaufdatum: 14.11.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/057-016
Grundsätzliches
- Typ-1-Diabetes
- nach familiärer Hypercholesterinämie häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter
- macht in Europa über 90 % der Diabetesfälle im jungen Lebensalter (< 25 Jahre) aus
- 8,4 Mio. Menschen weltweit mit Typ-1-Diabetes, 1,5 Mio. davon (18 %) < 20 Jahre
- in Deutschland ca. 32.230 Kinder & Jugendliche im Alter von 0 – 17 Jahre mit Diabetes
- Prävalenz bei 0-19-Jährigen (2020): 245,6 pro 100.000 Personen
- Inzidenzrate: 3 – 4 % pro Jahr
- Typ-2-Diabetes
- jährlich ca. 200 Kinder & Jugendliche im Alter von 11 – 17 Jahren an Typ-2-Diabetes neu erkrankt
- Inzidenz bei Kindern und Jugendlichen (6 – 17 Jahre): 0,8 pro 100.000/Jahr
Diabetes-Klassifikation
- Typ-1-Diabetes (Folge einer autoimmunen Beta-Zell-Destruktion mit Diabetes-assoziierter Antikörper)
- Typ-2-Diabetes (aufgrund eines progressiven Verlusts der Insulin-Sekretion der BetaZelle, häufig auf dem Boden einer Insulinresistenz bei Übergewicht oder Adipositas)
- Gestationsdiabetes (jede erstmals in der Schwangerschaft diagnostizierte Form)
- andere spezifische Diabetes-Typen (Subtypen)
- genetische Defekte der Beta-Zell-Funktion
- genetische Defekte der Insulinwirkung
- Erkrankung des exokrinen Pankreas
- Diabetes durch Endokrinopathien
- medikamenten- oder chemikalieninduzierter Diabetes
- Diabetes durch Infektionen
- seltene Formen des immunvermittelten Diabetes
- andere gelegentlich mit Diabetes assoziierten genetischen Syndrome
Anamnese & Diagnostik
Diabetes mellitus
Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes
- Typ-2-Diabetes bei Verwandten 1. – 2. Grades
- Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko (z. B. Menschen mit lateinamerikanischer, afrikanischer oder asiatischer Abstammung)
- extreme Adipositas (BMI > 99,5. Perzentile)
- Zeichen der Insulinresistenz oder mit ihr assoziierte Veränderungen (arterieller Hypertonus, Dyslipidämie, erhöhte Transaminasen, Polyzystisches Ovarialsyndrom, Acanthosis nigricans)
Symptomatik des Diabetes Mellitus (Diagnosekriterien)
- Gelegenheits-Blutzuckermessung (≥ 200 mg/dL oder 11,1 mmol/L) bei vorliegender Symptomatik ODER HbA1c ≥ 6.5 % ODER 2h-Plasma-Glukose-Wert ≥ 200 mg/dl im standardisierten oGTT (min. ein Kriterium erfüllt)
- ggf. Zusatzsymptome wie Polyurie, Polydipsie, Gewichtsabnahme, Müdigkeit/Leistungsabfall und oft positive Familienanamnese
diabetische Ketoazidose
biochemische Kriterien
- pH < 7,3 oder Bikarbonat < 18 mmol/L
- Hyperglykämie > 11 mmol/L, > 200 mg/dL (selten nahezu normale Glukosewerte)
- assoziiert mit Ketonnachweis im Serum oder Ketonurie
Schweregrade
- leicht (pH < 7,3; Bikarbonat <18 mmol/L)
- mittelschwer (pH < 7,2; Bikarbonat <10 mmol/L)
- schwer (pH < 7,1; Bikarbonat <5 mmol/L)
Risikofaktoren für Ketoazidose bei Diabetesmanifestation
- junges Alter (< 2 Jahre)
- weibliches Geschlecht
- verzögerte Diagnosestellung
- niedriger Sozialstatus
- Niedrigprävalenzländern
- Angststörung
Risikofaktoren für symptomatisches Hirnödem
- neu entdeckter Diabetes mellitus
- Alter < 5 Jahre bei Diabetesmanifestation
- längere diabetesspezifische Anamnese
- ausgeprägte Dehydratation
- erhöhter Harnstoff (vermutlich als Ausdruck der Dehydratation)
- schwere Azidose
- niedriger initialer pCO2
- mangelnder Serumnatrium-Anstieg/Abfall während erster Stunden des Volumenausgleichs
Diagnosescore für symptomatisches Hirnödem
- direkte diagnostische Kriterien
- abnorme motorische oder verbale Reaktion auf Schmerzreize
- Dezerebrationsstarre bei Mittelhirneinklemmung (erhöhter Muskeltonus, Opisthotonus und Beugung der Hand- und Fingergelenke) oder Dekortikationsstarre bei diffuser (hypoxischer) Schädigung des Großhirns (überstreckte Beine und im Ellbogengelenk gebeugte Arme ohne Opisthotonus)
- Hirnnervenparese (insbesondere III, IV, VI)
- abnormes neurogenes Atemmuster (z.B. Cheyne-Stokes-Atmung bei Schädigung beider Hemisphären oder hyperventilatorische Maschinenatmung bei Mittelhirnläsionen)
- indirekte Kriterien: Hauptkriterien
- veränderte mentale Aktivität/wechselnder Bewusstseinszustand
- anhaltender HF-Abfall (> 20/min), nicht zurückzuführen auf Volumengabe oder Schlaf
- altersinadäquate Inkontinenz
- indirekte Kriterien: Nebenkriterien
- Erbrechen
- Kopfschmerz
- Lethargie oder schwere Erweckbarkeit
- diastolischer Blutdruck > 90 mmHg
- Alter < 5 J
hyperglykämisches hyperosmolares Syndrom (HHS)
Diagnosekriterien
- Hyperglykämie > 33,3 mmol/L (> 600 mg/dl)
- arterieller pH > 7,3; venöser pH > 7,25
- Serum Bikarbonat > 15 mmol/L,
- geringe Ketonurie, fehlende oder milde Ketonämie (Serum Hydroxybutyrat 1+/-0,2 mmol/L)
- effektive Serumosmolalität > 320 mOsm/kg
- Stupor oder Koma
Hypoglykämie
- Hypoglykämie = alle Episoden mit einer Plasmaglukose, die so niedrig ist, dass sich klinische Symptome zeigen
Symptomatik
- autonome/adrenerge Symptome (v.a. initial)
- Schwitzen
- Zittern
- Herzrasen
- Blässe
- neuroglykopenische Symptome
- Konzentrationsstörungen
- Sehstörungen
- verwaschene Sprache
- Verwirrtheit
- Gedächtnisstörungen
- Schwindel
- Bewusstseinsverlust
Schweregrade
- Gefahr der Hypoglykämie: Glukose < 70 mg/dL (3,9 mmol/L), Gegenmaßnahmen erforderlich
- klinisch relevante Hypoglykämie: Glukose < 54 mg/dL (3,0 mmol/L), sofortige Reaktion erforderlich
- schwere Hypoglykämie (Koma, Krämpfe, schwere kognitive Dysfunktion): keine spezifische Glukoseschwelle, nur durch Fremdhilfe zu beheben
Risikofaktoren
- bei Abweichungen vom alltäglichen Therapieregime (z. B. außergewöhnlicher sportlicher Aktivität)
- bei schweren Unterzuckerungen in den vorausgegangenen 4 Jahren
- bei eingeschränkter Hypoglykämiewahrnehmung
- bei längerer Diabetesdauer
- nach Alkoholkonsum
- assoziierte Erkrankungen wie Zöliakie, Hypothyreose und Morbus Addison
Diagnostik bei Ketoazidose und HHS
- stündliche Messung von Puls, AF, RR und EKG-Monitoring
- stündliche Ein- & Ausfuhrdokumentation, Flüssigkeitsbilanz alle 2h
- min. stündliche, ggf. häufigere neurologische Beurteilung (GCS) bzgl. Warnzeichen oder Symptomen eines Hirnödems
- stündlich kapilläre Blutzucker-Messung
- zunächst, wenn mgl., stündl., jedoch je nach klinischem Zustand min. alle 2 – 4 h Laboruntersuchung (Elektrolyte, Hämatokrit, Harnstoff, BZ, Blutgase; Phosphatspiegel alle 3 – 4 h)
- Bestimmung der Ketone im Serum oder Urin, bis diese nicht mehr nachweisbar sind
Therapie
- grundsätzlich gilt bei schwerer Stoffwechselentgleisung (schwere Hyperglykämie, Ketonämie und Dehydratation oder schwer entgleiste Stoffwechsellage, also Ketoazidose) primär Insulintherapie i.v. und Flüssigkeits- & Elektrolytsubstitution mit balanc. VEL
- minderjährige Patient*innen in pädiatrischen diabetologischen Einrichtungen behandeln
diabetische Ketoazidose
- CAVE: diabetische Ketoazidose ist potentiell lebensbedrohliche Erkrankung (Risiko-Wahrscheinlichkeit bei bereits diagnostizierter Ketoazidose: 1 – 10 % pro Patient/Jahr)
- Kreislaufstabilisierung mit initialem Volumenbolus von 10-20 ml/kg über 1 – 2 h mit isotoner Lösung (NaCl 0,9 %), dann bilanzierter Flüssigkeitsausgleich (nur plasmaisotone Elektrolytlösungen, also NaCl 0,9 % oder Ringerlösung)
- Elektrolytausgleich, z.B. Kaliumsubstitution mit 3 – 6 mmol/kg/d, da v.a. ausgeprägtes Gesamtkaliumdefizit
- Ausgleich von Azidose und Ketose durch Insulintherapie (0,05 – 0,1 U/kg/h bis zum Azidoseausgleich)
- kein Bikarbonat zum Azidoseausgleich (Ausnahme: lebensbedrohliche Hyperkaliämie oder anhaltend nicht beeinflussbare, schwere Azidose mit drohender Kreislaufdekompensation, dann mit 1 – 2 mmol/kg über 60 min)
- Senkung der Blutzuckerwerte mit Ziel von 2 – 5 mmol/L/h bzw. 36-90 mg/dL/h (spätestens nach 1-2 h mittels Insulin-Perfusor i.v., wenn alleinige Flüssigkeitsgabe BZ nicht weiter senkt)
- bei BZ < 270 mg/dL oder bei zu schnellem Glukoseabfall zusätzlich Glukose zur Infusionslösung (Endkonzentration: 5 % Glukose/0,45 % NaCl-Lösung)
- CAVE: Unterbrechung der Insulinzufuhr vermeiden
- Vermeidung von Therapiekomplikationen (Hirnödem, Hypokaliämie, schwere Hypophosphatämie, inadäquate Rehydratation, Hypoglykämien, Hypokaliämie, hyperchlorämische Azidose)
- Diagnose und Therapie auslösender Faktoren (z.B. Infektionen)
- Behandlung des symptomatischen Hirnödems
- umgehend weitere diagnostische Maßnahmen (MRT, alternativ CT)
- Gabe von 0,5 – 1 g/kg Mannitol i.v. über 10 – 15 min (alternativ oder wenn Mannitol frustran 2,5 – 10 mL/kg hypertone NaCl über 10 – 15 min), gleichzeitig Infusionsmenge auf ca. 1/3 reduzieren und Kopfhochlagerung
- umgehender Transport in Klinik mit in der Behandlung von Kindern erfahrenem Team (bei schwerer Ketoazidose und erhöhtem Hirnödem-Risiko bzw. V.a. Hirnödem Transport auf pädiatrisch ITS mit Expertise bzgl. Ketoazidose und Hirnödem)
hyperglykämisches hyperosmolares Syndrom
- Flüssigkeitssubstitution wie bei diabetischer Ketoazidose
- bei Hyperglykämie-Ausgleich auf erhöhte Insulinempfindlichkeit achten (CAVE: nach initialer Flüssigkeitsgabe nur 0,025 – 0,05 U/kg/h Insulin, erst wenn BZ durch alleinige Flüssigkeitszufuhr nicht weiter fällt
- umgehender Transport auf pädiatrische ITS in Klinik mit in der Behandlung von Kindern erfahrenem Team
Hypoglykämie
- initial schnell wirkende Kohlenhydrate in Form von Traubenzucker o.Ä. (sofern oral mgl.)
- Dosis schnell wirkender Kohlenhydrate: 0,3 g/kgKG (Ziel ist BZ-Erhöhung um 1 – 1,3 mmol/L (18 – 23 mg/dL) binnen 10 min und um 2-2,1 mmol/L ( 36-38 mg/dL) binnen 15 min anzuheben ohne gleichzeitig überschießende Blutzuckeranstieg zu provozieren
- Glukagon i.v./i.m./s.c./i.n., sofern schlucken nicht mgl. oder bei Bewusstseinsstörung
- Vermeidung von Therapiekomplikationen (zerebrale Dsyfunktion mit Koma und Krampfanfall, temporäre fokale Ausfälle, Gedächtnisverlust, kardiovaskuläre Effekte)
Sei der Erste der einen Kommentar abgibt