veröffentlichende Fachgesellschaft: Royal College of Emergency Medicine
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 13.03.2024
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://rcem.ac.uk/clinical-guidelines/
Grundsätzliches
- Sichelzellkrankheit: Gruppe lebenslang vererbbare Hämoglobinanomalie
- ca. 15.000 Menschen mit Sichelzellenanämie in Großbritannien (Einwohnerzahl GB: 67.000.000)
- etwa jedes 79 Neugeborenes hat eine Prädisposition für die Sichelzellkrankheit
- jährlich ca. 300 Babys mit Sichelzellenkrankheit in GB geboren
- meiste Betroffenen sind afrikanischer oder afrikanisch-karibischer Herkunft (CAVE: Krankheit kann trotzdem jede*n treffen)
- Sichelzellkrise (auch akute vasookklusive Episode): Verstopfung von Kapillaren durch sichelförmige Zellen mit anschließendem Gewebeinfarkt
- Auslöser für Sichelzellkrisen sind z.B. Dehydratation, Hypoxie, Schwangerschaft, Stress, Kälteexposition und Infektionen
- wiederholte Episoden führen über Ischämien zu Endorganschäden (z.B. Nephropathie, Hepatopathie, Retinopathie, Schlaganfall, pulmonale Hypertonie, Hyposplenismus etc.)
- vorrangiges Therapieziel der Sichelzellkrise besteht in wirksamer, rascher und sicherer Schmerzkontrolle (Behandlung i.dR. im heimischen Umfeld möglich)
Diagnostik
- Beurteilung innerhalb von 30 Minuten ist anzustreben (Erkennung und Linderung von Schmerzen haben Priorität, am besten innerhalb von 15 Minuten)
- Erkennung, ob Sichelzellenanämie-Komplikationen oder schwere Schmerzkrise vorliegt, innerhalb von 60 Minuten (bei Vorliegen sofortiges hämatologisches Konzil)
- Schmerzbeurteilung mit altersgerechtem Scoring-Tool (NRS, VAS etc.)
- initiales Monitoring/Diagnostik mindestens bestehend aus RR, SpO2, HF, AF, Temperatur, BGA, NEWS (Erwachsene)/PEWS (Kinder) sowie Gewicht bei Kindern
- regelmäßige Schmerz-Monitoring nach Analgetika-Gabe mit Reevaluation alle 15 – 30 min (bis akzeptable Schmerzlinderung erreicht, danach min. alle 4 h Reevaluation)
- Labordiagnostik (gr. Blutbild, Retikulozytenzahl, Nieren- und Leberchemie, CRP)
- ggf. Abnahme Blutkulturen und Sputum sowie Mittelstrahlurinanalyse und PCR bzgl. Atemwegsviren
- ggf. Thorax-Röntgen
- Suche nach möglichen Komplikationen wie akuter Schlaganfall, aplastische Krise, Infektionen, Priapismus, Osteomyelitis oder Milzsequestrierung
Red Flags für komplizierte Sichelzellkrankheit/Sichelzellkrise
- Fieber > 38 °C
- O2 < 95 % bei Raumluft
- Thoraxschmerz
- Priapismus
- anhaltende starke Schmerzen
- neuaufgetretene neurologische Symptome
Indikationen für hämatologisches Konzil
- akuter Schlaganfall
- akutes Thoraxsyndrom
- akute Anämie
- schwerer, anhaltender Priapismus
- Schwangere
Therapie
- rasche Therapieeinleitung/-eskalation bei (P/N)EWS ≥ 4 oder ≥ 3 in irgendeiner (P/N)EWS-Kategorie und/oder bei SpO2 < 94 % bei Raumluft oder zunehmendem Sauerstoffbedarf
- Wärmeerhalt und Flüssigkeitszufuhr mit Trinkwasser oral, falls möglich
- O2-Gabe bei SpO2 < 95 %
- Opioid-Bolus-Gabe bei starken Schmerzen bzw. mäßigen Schmerzen mit vorheriger frustraner Analgesie mit Nichtopioid-Analgetika (vor Opiat-Gabe Abklärung, ob Patient*in opioidnaiv ist)
- Erwachsene: 0,05 – 0,1 Morphin mg/kg s.c., ggf. Wdh. alle 30 min bis Schmerzlinderung, dann 0,05 – 0,1 mg/kg s.c. alle 2 – 4 h als Erhaltungsdosis (i.v.-Gabe nur bei Transfusionen oder parenteraler Antibiotika-Gabe)
- Kinder: 0,2 – 0,3 mg/kg p.o. (max. 10 mg) oder 0,1 mg/kg i.v. (max. 5 mg) als Bolus alle 30 min bis Schmerzlinderung, danach 0,2 – 0,3 mg/kg p.o. (max. 10 mg) alle 2 – 4 h
- bei pädiatrischen Patient*innen alternativ ggf. Fentanyl i.n. anstatt i.v.-/s.c.-Gabe erwägen
- nach dreimaliger Opiat-Gabe subkutane, patient*innenkontrollierte Analgesie (PCA) erwägen, z.B. 2 mg Oxycodon-Bolus max. alle 10 min)
- bei Opiat-Unverträglichkeit Gabe von NSAR in Kombination mit Paracetamol (ggf. auch alternativ zu Morphin Gabe von Codein, Dihydrocodein oder Oxycodon erwägen; 2,5 – 10 mg Oxycodon 2 – 4 h s.c./i.v.)
- bei Übelkeit und/oder Erbrechen (v.a. auch wenn bekannte Nebenwirkung bei Opiat-Gabe) Gabe von Antiemetikum wie Ondansetron, Prochlorperazin oder Metoclopramid
- bei Bedarf Gabe von Laxantien und/oder Antipruritika (z.B. Chlorphenamin oder Hydralazin)
- Antibiotika-Gabe bei Fieber oder Infektionszeichen, v.a. in Fällen mit höherem Risiko, z.B. bei Hyposplenie
- Thromboseprophylaxe bei Erwachsenen, sofern nicht kontraindiziert
- bei unkomplizierter Sichelzellkrankheit mit gutem Ansprechen auf Analgesie spätestens nach 2 h Entlassung nach 4 h prüfen (CAVE: niedrigere Einweisungsschwelle für Kinder oder Schwangere, die kontinuierliche starke Opiatanalgesie benötigen; bei Schwangeren > 16. – 23. SSW Aufnahme auf geburtshilflicher Station und bei 16- bis 18-Jährigen ggf. Aufnahme auf Erwachsenenstation)
Merkhilfe „ACT NOW“ für Vorgehen
- A – Analgesie
- C – Compassion (Mitgefühl): Freundlichkeit, aktives Zuhören, Beruhigen und Informieren
- T – Tests & Trigger: Labordiagnostik, Transfusionsanamnese sowie Auslöseranamnese
- N – Notify (Benachrichtugen): hämatologisches Konzil und Gespräch mit Angehörigen bzgl. weiterer individueller Planung)
- O – Oxygen (Sauerstoffgabe)
- W – Watch (Überwachung/Monitoring)
spezielle Komplikationen
akutes Thoraxsyndrom
- CAVE: rasche Entwicklung mit tödlichem Verlauf möglich, daher rasche Therapieeskalation bei Atemnot, Thoraxschmerz, Fieber > 38 °C und Hypoxiezeichen
- akutes Thoraxsyndrom: Vorhandensein neuer Lungeninfiltrate im Thorax-Röntgen in Verbindung mit respiratorischen Symptomen und/oder Fieber bei bek. Sichelzellkrankheit
- Symptomatik akutes Thoraxsyndrom
- Thoraxschmerz (manchmal pleuritisch)
- Husten (ggf. produktiv)
- Kurzatmigkeit/Tachypnoe
- Hypoxie
- Fieber
- angestrengte Atmung (Keuchen)
- Tachykardie
- Krepitationen, bronchiale Atemgeräusche und verminderter Lufteintritt bei Auskultation
- Rhonchi mit dumpfen Klopfschall bei Perkussion
- Maßnahmen
- Diagnostik: dringendes Thorax-Röntgen, komplette Labordiagnostik (inkl. BGA und Blutgruppen-/Antikörperscreening sowie Blutkulturen), Nasen- & Rachenabstriche, atypische Serologie sowie Urinanalyse bzgl. Pneumokokken- und Legionellen-Antigen
- sofortiges hämatologisches Konzil, i.d.R. mit Verlegung auf ITS
- oftmals frühzeitige Gabe von Bluttransfusion
- Flüssigkeitstherapie i.v. (CAVE: Flüssigkeitsüberlastung)
- angemessene Analgesie sowie NSAR-Gabe und Thromboseprophylaxe mit NMH
- Bronchodilatatoren vernebelt bis reaktiven Atemwegssymptomen oder Asthma
- Differentialdiagnostik bzgl. ambulant erworbene Lungenentzündung oder LAE
akute neurologische Komplikationen
- neurologisches Konzil bei ischämischem Schlaganfall und intrakranieller Blutung
- rasche CT-Bildgebung und weitere Therapie gemäß aktuell geltender Leitlinien
Infektionen & Sepsis
- Infektionen wie Pneumokokken-Infektion häufig bei Sichelzellkrankheit aufgrund Hyposplenismus, daher Screening bzgl. Sepsis und ggf. rasche Antibiotika-Therapie
akute Anämie
- bei symptomatischer Anämie und Hämoglobinwert < 60 – 110 g/L Erythrozytentransfusion erwägen
Priapismus
- Priapismus: schmerzhafte Dauererektion des Penis
- rasche Vorstellung innerhalb von < 2 h aufgrund Gefahr irreversibler Schäden (fulminanter Priapismus > 4 h)
- Therapie besteht aus sanfter Bewegung, Analgesie, Flüssigkeitszufuhr, Unterstützung bei Blasenentleerung, Wärme sowie Gabe alpha-adrenergee Agonisten (z.B. 15 mg Etilefrin alle 6 h; max. 60 mg in 24 h)
- CAVE: kalte Umschläge und Kühlpacks sind kontraindiziert
- sofern initiale Therapie frustran, dringende Drainage mit Phenylephrin-Instillation
- bei resistenten oder rezidivierenden Fällen ggf. frühzeitig Austauschtransfusion notwendig
Schwangerschaftskomplikationen
- CAVE: erhöhtes Risiko für Präeklampsie sowie maternale & neonatale Mortalität
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