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Leitlinie „Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau“ der DGRM (Update 2022)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 31.10.2022
Ablaufdatum: 30.10.2027
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/054-002

Grundsätzliches

  • Leichenschauwesen durch landesrechtliche Bestimmungen geregelt (Gesetze über das Leichen-, Friedhofs- und Bestattungswesen)
  • Leichenschau ist ärztliche Aufgabe (approbierte*r Arzt/Ärztin)
  • Leichenschau ist ein „Akt hoher ärztlicher Verantwortung“ (Weichenstellung für weitere Kontrolle durch ärztliche Handlung)
  • bei jedem Todesfall muss eine Leichenschau durchgeführt werden und eine ärztliche Bescheinigung (Todesbescheinigung, Leichenschauschein, Totenschein etc.) ausgestellt werden
  • Kriterien für das Unterlassen und den Abbruch von Reanimationsmaßnahmen sind den aktuellen Reanimationsleitlinien zu entnehmen
  • Definition „Leiche“
    • i.d.R. Körper eines Verstorbenen mit sicheren Todeszeichen oder Todesfeststellung auf eine andere zuverlässige Art und Weise
    • jedes Lebendgeborene unabhängig vom Geburtsgewicht, wenn nach Trennung vom Mutterleib min. ein Lebenszeichen vorgelegen hat (Herzschlag, Pulsieren der Nabelschnur, natürliche Lungenatmung)
  • Definition „Totgeburt“
    • Neugeborene nach Trennung vom Mutterleib ohne ein einziges Lebenszeichen
    • ggf. länderspezifische Regelungen wie Geburtsgewicht > 500 g oder > 24. SSW
    • nach o.g. Kriterien besteht hier auch die Pflicht zur Leichenschau
    • liegen die o.g. Kriterien nicht vor, so handelt es sich um eine Fehlgeburt

Feststellungskriterien der ärztlichen Leichenschau

Feststellung von…

  • Tod
  • Personalien
  • Todeszeit
  • Todesart
  • Todesursache

Anforderungen an die ärztliche Leichenschau

  • ärztliche Leichenschau hat „unverzüglich“ stattzufinden (also „ohne schuldhaftes Zögern“)
  • Ort der Leichenschau: grundsätzlich Auffindeort der Leiche (begründete Ausnahmefälle: z.B. Tod in der Öffentlichkeit mit Zuschauern)
  • Leichenschau und Ausstellung der Todesbescheinigung haben mit großer Sorgfalt zu erfolgen
    • gleiche Sorgfaltspflichten wie bei lebenden Patienten
  • ärztliche Leichenschau hat bei ausreichender Beleuchtung zu erfolgen (CAVE: Untersuchung des Leichnams bei künstlicher Beleuchtung nur schwer unterscheidbar)

Durchführung der ärztlichen Leichenschau

sichere Todeszeichen

  • Totenflecke
  • Totenstarre
  • Fäulnis
  • Verletzungen, die mit dem Leben unvereinbar sind

20 -30 min nach Herzstillstand sowie bei Vita Minima (bei Unterkühlung, Elektrounfällen, metabolischem Koma, Vergiftung, hypoxischer Hirnschädigung) ist die Todesfeststellung auf Grundlage sicherer Todeszeichen ggf. schwierig

Feststellung Todeszeit

  • geeignete Mittel/Indikatoren für die Todeszeitdiagnostik sind:
    • frühe Leichenerscheinungen (Totenflecke, Totenstarre, Abkühlung)
    • späte Leichenerscheinungen (Fäulnis, Verwesung, konservierende Leichenveränderungen)
    • Prüfung supravitaler Reaktionen
    • ggf. zuverlässige Zeugenaussagen
    • ggf. medizinische Befunde (z. B. EKG/Monitoring) in Verbindung mit Leichenbefunden
    • ggf. kriminalistische Ermittlungsergebnisse (z.B. zuletzt lebend gesehen, Zeitungen im Briefkasten, Zustand von Speiseresten, letztes Telefonat, etc.)

grobe Richtwerte für Todeszeitdiagnostik anhand sicherer Todeszeichen

  • Totenflecken
    • Beginn: 15 – 30 min post mortem (p.m.)
    • Konfluktion: ca. 1 – 2 h p.m.
    • volle Ausbildung: ca. 6 – 8 h p.m.
    • Wegdrückbarkeit
      • vollständig auf Daumendruck: bis ca. 20 h p.m.
      • unvollständig auf scharfkantigen Druck (Pinzette): bis ca. 36 h p.m.
    • Umlagerbarkeit: etwa 6 – 12 h p.m.
      • vollständig: bis 6 h
  • Totenstarre
    • Beginn (Kiefergelenk): 2 – 4 h p.m.
    • vollständige Ausprägung: ca. 6 – 8 h p.m. (in Einzelfällen bis 19 h)
    • Wiedereintritt nach Brechen: bis ca. 8 h p.m. (in Einzelfällen bis 19 h)
    • Lösung stark abhängig von Umgebungstemperatur (Lösungsbeginn: nach 2 – 4 d und später)
  • mechanische Erregbarkeit der Skelettmuskulatur
    • fortgeleitete Kontraktion (sog. Zsako-Muskelphänomen, also Fingeradduktion bei Anschlagen mit dem Perkussionshammer im Bereich der Mm. interossei über dem Handrücken oder Hochziehen der Kniescheibe bei Anschlagen im unteren Drittel der vorderen Oberschenkelmuskulatur, ): bis 1,5 – 2,5 h p.m.
    • lokale Kontraktion (idiomuskulärer Wulst durch Anschlagen des M. biceps brachii): bis 8 h – (extrem selten bis 13 h) p.m.
  • Messung Körperkerntemperatur (tiefe Rektaltemperatur)
    • beste Grundlage der Todeszeitbestimmung im frühpostmortalen Intervall
    • Verwendung geeichter Glas- oder elektronischen Thermometers mit besonders langen Messansatz (min. 8 cm Einführtiefe in das Rektum)
    • gleichzeitige Messung der Umgebungstemperatur zwingend notwendig
    • Dokumentation der Uhrzeit für beide Messungen

CAVE: Verwechslung mit Kontrakturen; daher Prüfung Totenstarre nicht nur in einem, sondern in mehreren kleinen und großen Gelenken (Kiefer-, Finger-, Ellenbogen-, Knie-, Sprunggelenk)

Technik der Leichenuntersuchung

  • Entkleidung
    • Leiche ist zu entkleiden und Inspektion Vorder- und Rückseite einschließlich Körperöffnungen
    • Verzicht auf (vollständiges) Entkleiden bei
      • V.a. Tötungsdelikt
      • V.a. nichtnatürlichen Tod aus Befunden an der bekleideten Leiche (z.B. Petechien, Blutentleerung aus dem Ohr, etc.)
      • V.a. nichtnatürlichen Tod aufgrund Auffindesituation oder äußerer Umstände (z.B. Verkehrsunfall, Wasserleiche, Betriebsunfall, etc.)
      • V.a. nichtnatürlichen Tod nach teilweiser Entkleidung
      • aufgrund technischer Gründe oder äußerer Umstände (Auffinden der Leiche in der Öffentlichkeit)

(CAVE: sichere Feststellung des Todes hat immer Priorität)

  • vor Untersuchung spezieller Merkmale (Totenflecke, Totenstarre, Fäulnis etc.) Registrierung von
    • Ernährungszustand
    • Statur
    • auffällige Hautverfärbungen (z.B. Ikterus)
    • Vernachlässigungszeichen
    • Austrocknungszeichen
  • Merkmale bzgl. der Totenflecken
    • Vorhandensein (normale Intensität, spärliche Ausprägung)
    • Phase der Zunahme/der maximalen Intensität
    • Farben (blau-violett; kirschrot-homogen oder kirschrot-inhomogen bei CO-Intoxikation; grau-braun bei Intoxikation mit Met-Hb-Bildung)
    • Topologie im Verhältnis zur Lage der Leiche
    • Verlagerbarkeit/Wegdrückbarkeit
    • Musterabdrücke (z.B. durch Textilgewebe, Unterlage, Tascheninhalte)
  • Merkmale bzgl. der Totenstarre
    • Vorhandensein (ggf. mit Verteilungstypus bzgl. Kiefer, Hals, Knie etc.)
    • Fehlen, visköser Widerstand, kräftige Totenstarre
    • Wiedereintritt nach Brechen oder Nicht-Wiedereintritt
    • gelöst (zeitlich im Zusammenhang mit anderen Leichenerscheinungen)
  • Merkmale bzgl. der Fäulnis
    • Farbfäulnis (grün, grau-braun, dunkelgrau)
    • Fäulnisverteilung (zirkumskript, flächenhaft, netzförmig, Kombinationsmuster)
    • Gasdunsung (Gesicht, Brüste, Skrotum, Penis, Abdomen, Knistern, Unterhautfett)
    • Ablösbarkeit von Oberhaut, Haaren, Nägeln
    • Blasenbildung Haut, Flüssigkeitsentleerung Mund/Nase
  • Merkmale bzgl. der Leichenfauna
    • Eiablage durch Insekten (später Fliegenlarven, Verpuppung, leere Puppenhülsen)
    • Defekten/Veränderungen durch
      • Ameisen mit Ätzspuren
      • Nager, Hunde, Katzen, Füchse, Vögel, etc.
    • v.a. lokale Häufung von Fliegenlarven dokumentieren
  • Merkmale bzgl. der Vertrocknung
    • Topologie der „natürlichen“ Vertrocknung (Corneae, Augäpfel, perioral, nasal, Ohrmuscheln, Finger)
  • Merkmale bzgl. Schürfungen als Ursache nicht-natürlicher Vertrocknung
    • Topologie
    • Schürfrichtung
    • Farbe (rot-braun/gelb)
    • Konsistenz (Mechanismus (Sturz/fremde Hand))

Eine Übersicht zur systematischen Untersuchung der Körperteile ist in der Leitlinie selbst auf Seite 7 zu finden.

Beobachtungen am Leichenfundort

  • Fenster und Türen geschlossen oder geöffnet?
  • Abdeckung der Leiche, Untergrundbeschaffenheit bei Auffinden im Freien
  • Raum- bzw. Außentemperaturen, Witterungsverhältnisse
  • Lage der Leiche und Stellung der Gliedmaßen
  • Hinweise auf Konsum von Alkohol, Drogen, Medikamenten
  • Hinweise auf Erkrankungen (Rezepte, Medikamente etc.)
  • Zustand der Wohnung
  • Hinweise auf Suizid (Abschiedsbriefe, Tablettenblister etc.)
  • Hinweise auf Kampfspuren, Beschädigungen an Türen oder Fenstern
  • Bekleidung geordnet, ungeordnet, beschädigt, verschmutzt, Antragungen, Schleifspuren
  • auffällige Lage des Leichnams (z.B. abgespreizte Beine)

Feststellung Todesursache

  • Todesursache sind Krankheiten, Verletzungen oder Vergiftungen (unmittelbare Verursachung)
  • Angabe von Kausalkette (ggf. Grundleiden; z.B. ACS als Folge einer stenosierenden Koronarsklerose als Folge einer generalisierten Arteriosklerose)
  • Unterscheidung in monokausale und polykausale Todesursache
  • bei nichtnatürlichen Todesfällen (Unfälle, Vergiftungen, andere Gewalteinwirkungen etc.)
    • Angaben zur Art der äußeren Ursache
    • Angaben zur Art der Verletzung bzw. Vergiftung
  • wenn Todesursache nicht zweifelsfrei natürlicher Todesart zuzuordnen ist, handelt es sich um eine „unbekannte“ Todesursache

Klassifizierung Todesart

  • natürlicher Tod
    • Tod aus krankhafter Ursache, der völlig unabhängig von rechtlich bedeutsamen Faktoren eingetreten ist
    • Tod zu diesem Zeitpunkt muss aus Krankheitsverlauf zu erwarten gewesen sein
    • keine Hinweise für nichtnatürliches Ereignis (natürliche medizinische Kausalkette)
  • unklar, ob natürlicher oder nichtnatürlicher Tod (unklare/ungeklärte Todesart)
    • Fehlen einer plausiblen natürlichen Todesursache
    • keine Anhaltspunkte für einen nichtnatürlichen Tod
  • nichtnatürlicher Tod
    • Verdacht, der sich auf konkrete Anhaltspunkte stützt, ist ausreichend
    • keine Berücksichtigung anderer, rechtlich relevanter Ursachen und Begleitumstände (z.B. eigene/fremde Hand, fremdes/eigenes Verschulden)
    • Sammelbegriff für Selbsttötung, Unfalltodesfälle, Tötungen durch fremde Hand, Todesfälle infolge ärztlicher Eingriffe
    • ggf. Berücksichtigung von Kausalketten
  • hinreichende Plausibilität für (V.a.) nichtnatürlichen Tod bei
    • Hämatom(e) (Ausnahme: an klassisch sturzexponierten Stellen wie z. B. Schienbeine bei Vorschulkindern)
    • unklare oder verdächtige Farbe der Totenflecke
    • Punktblutungen, z. B. in den Augenbindehäuten
    • Verdacht auf Strommarken oder andere Einwirkungen
    • Leiche in der Badewanne
    • Verdacht auf thermische Einwirkungen
    • Mees’sche Nagelbänder, Holzer’sche Blasen, atypische Pupillenweiten
    • Schwellungen, Verletzungen, Blutaustritte usw. usw.
    • auffälliger Geruch

Meldepflichten

  • Benachrichtigung der Polizei bei…
    • nichtnatürlichem Tod
    • ungeklärter Todesart
    • unbekanntem Toten
    • ggf. landesabhängig Meldepflicht z.B. bei…
      • Tod im staatlichen Gewahrsam
      • Tod im institutionellen oder häuslichen Pflegebereich
      • Tod während eines operativen Eingriffs oder innerhalb von 24 Stunden danach
      • Hinderung des Arztes am Betreten des Ortes der Leiche
      • Auffälligkeiten in Bezug auf den Auffindungsort
      • Verweigerung oder erkennbar unvollständig oder unrichtig erteilten Auskünften über dem Tod vorausgegangene Erkrankungen/Todesumstände
      • fortgeschrittenen Leichenveränderungen
      • plötzlichem Tod eines zuvor gesunden Menschen
      • verstorbener Person < 14 Jahre, außer bei Vorerkrankung, die zweifelsfrei zum Tod führte
  • Benachrichtigung des zuständigen Gesundheitsamtes bei… (§ 9 Abs. 3 IfSG)
    • übertragbarer Krankheit als Todesursache
    • (V.a.) Infektion des/der Verstorbenen mit übertragbarer Krankheit
  • Benachrichtigung der zuständigen Berufsgenossenschaft bei
    • begründetem Verdacht auf Tod als Folge einer Berufskrankheit oder als Teilursache
Published inLeitlinien kompakt

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