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Leitlinie „Verletzungen des Beckenrings“ des DGOU

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU)
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 31.10.2023
Ablaufdatum: 30.10.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/187-039

Grundsätzliches

  • hochenergetische Unfälle
    • Krafteinwirkung in anteriorer-posteriorer Richtung, laterale Richtung & Scherverletzung („vertical shear“, vertikale Instabilität)
    • typische Unfallursachen: Verkehrsunfälle, Stürze aus großer Höhe, Stürze im häuslichen Bereich mit entsprechender Krafteinwirkung & Sportverletzungen
    • ca. 3 % aller Verletzungen des Skelettsystems weisen eine Verletzung des Beckens auf (Inzidenz: 59,8/100.000)
    • 13 – 17 % der Patientinnen und Patienten mit Hochrasanztraumen erleiden Beckenverletzung, unter Schwerverletzten bis zu 25 % mit Beckenringverletzung
    • zwei Altersgipfel zwischen 20. – 30. Lebensjahr und um das 70. Lebensjahr
    • Mortalität aller Beckenverletzungen liegt zwischen 10 – 16 %
    • Inzidenz Beckenverletzung bei Polytrauma (ISS ≥ 16) laut TraumaRegister DGU® 15 %
    • bei 2 % aller Beckenverletzungen liegt hämodynamische Blutung mit Mortalität von bis zu 65 % vor
  • niedrigenergetische Unfälle und Insuffizienzfrakturen
    • Krafteinwirkung in anteriorer-posteriorer Richtung, laterale Richtung & Scherverletzung („vertical shear“, vertikale Instabilität)
    • typische Unfallursachen: Stürze im häuslichen Bereich, Bagatelltrauma & häufig schleichender Beginn ohne erinnerliches Trauma
    • disponierende Erkrankungen: Osteoporose, lokale Bestrahlung im Bereich Becken (21-34% Insuffizienzfrakturen) & Knochenstoffwechselstörungen (M. Paget, rheumatoide Arthitis, Hyperparathyreoidismus, langfristige Steroideinnahme)
    • Inzidenz bei Patient*innen > 60 Jahre: 22,4 auf 10.000 Einwohner

Klassifikation

Klassifikation nach Tile bei hochenergetischen Unfällen

Quelle: Tile M. (1996). Acute Pelvic Fractures: I. Causation and Classification. The Journal of the American Academy of Orthopaedic Surgeons4(3), 143–151. https://doi.org/10.5435/00124635-199605000-00004
  • Typ A Verletzungen – Rotations- und vertikal stabil bei intaktem sakroiliakalem Komplex
    • A1: Avulsionfrakturen
    • A2: Stabile Frakturen der Darmbeinschaufel oder minimal versetzte vordere Beckenringfrakturen
    • A3: Quer Sakral- oder Steißbeinfrakturen
  • Typ B Verletzungen – Rotationsinstabil und vertikal stabil aufgrund einer teilweisen Zerstörung des hinteren Sacroiliacalkomplexes
    • B1: „Open Book“ Verletzungen mit Sprengung der Symphyse
    • B2: Seitliche Kompressionsverletzungen
    • B3: Bilaterale Rotationsinstabilität
  • Typ C Verletzungen – Rotationsinstabil und vertikal instabil; vollständige Zerstörung des hinteren Sakroiliakomplexes (instabile Frakturen meistens durch hochenergetische Traumata verursacht)
    • C1: einseitige Verletzung
    • C2: beidseitige Verletzungen, eine Seite rotationsinstabil und die kontralaterale Seite vertikal instabil
    • C3: beidseitige Verletzung, beide Seiten vertikal instabil

Sakrumfrakturen-Klassifikation nach Roy-Camille bei hochenergetischen Unfällen

Quelle: Roy-Camille R, Saillant G, Gagna G et al. Transverse fracture of the upper sacrum.
Suicidal jumper’s fracture. Spine (Phila Pa 1976) 1985; 10: 838-845.
doi:10.1097/00007632-198511000-00011
  • Typ 1: leichte Flexion von S1, sodass das Sakrum hinten aufklappt
  • Typ 2: ebenfalls Flexionsfraktur, bei der das kraniale Fragment nach dorsal wegkippt
  • Typ 3: Extensionsfraktur, bei der das kraniale Segment über ventral vor den kaudalen Anteil disloziert
  • Typ 4: Trümmerfraktur von S1

FFP-Klassifikation nach Hofmann & Rommens bei niedrigenergetischen Unfällen und Fragilitätsfrakturen

  • FFP Typ I: Isolierte anteriore Beckenringfrakturen ohne Beteiligung der posterioren Strukturen
    • Typ Ia: unilateral
    • Typ Ib:. Frakturen bilateral
  • FFP Typ II: Nichtdislozierte Frakturen des hinteren Beckenringes
    • Typ IIa: isoliert dorsale Verletzung
    • Typ IIb: Kompressionsfraktur der vorderen Massa lateralis des Sakrums mit einer Instabilität des vorderen Beckenringes
    • Typ IIc: unverschobene, aber vollständige Sakrumfraktur, Iliumfraktur oder iliosakrale Verletzung mit begleitender Instabilität des vorderen Beckenringes
  • FFP Typ III: Dislozierte unilaterale hintere Beckenringverletzung mit/ohne gleichzeitiger Instabilität des vorderen Beckenringes
    • Typ IIIa: verschobene Iliumfraktur
    • Typ IIIb: verschobene unilaterale iliosakrale Ruptur
    • Typ IIIc verschobene unilaterale Sakrumfraktur
  • FFP Typ IV: Bilaterale verschobene hintere Beckenringverletzungen mit/ohne gleichzeitiger Instabilität des vorderen Beckenringes
    • Typ IVa: bilaterale Iliumfrakturen oder bilaterale iliosakrale Rupturen
    • Typ-IVb: spinopelvine Sprengungen mit einhergehenden bilateralen vertikalen Läsionen der Massa lateralis des Sakrums und einer gleichzeitigen horizontalen Komponente, die die beiden vertikalen Läsionen verbindet (U- oder H-Fraktur des Sakrums)
    • Typ IVc: Kombination verschiedener dislozierter Instabilitäten des hinteren Beckenringes

Symptomatik

  • Schmerz
  • Steh- und Gehunfähigkeit
  • gespanntes Abdomen
  • Gefühlsstörungen (Reithosenanästhesie)
  • Funktionsausfälle
  • Inkontinenz
  • Hämaturie
  • Blutung
  • Hämatom
  • periphere Durchblutungsstörung
  • Schwellung

typische Begleitverletzungen

  • hochenergetische Unfälle
    • Blasen- und Harnröhrenverletzungenverletzungen (Beteiligung bei komplexen Beckenfrakturen ca. 15 – 25 %)
    • isolierte Urethraverletzungen (2 – 7 %)
    • Verletzungen des Darms
    • perianale Verletzungen
    • Weichteilverletzungen (Decollement, offene Beckenfraktur, Morell-Lavallée Läsion)
    • Verletzung von Gefäßen, v.a. des venösen Plexus sacralis
    • Nerven- & Plexusverletzungen
  • niedrigenergetische Unfälle und Fragilitätsfrakturen
    • Begleitverletzungen nur in seltenen Fällen
    • gelegentlich relevante Blutungen durch Verletzung der Corona mortis oder anderen arteriellen Gefäßen und iatrogene Koagulopathie (Antikoagulantien)

Anamnese

hochenergetische Unfälle

  • anamnestische Risikofaktoren für Verletzungen des Beckens (Hochenergietrauma)
    • Verkehrsunfall mit > 80 km/h Aufprallgeschwindigkeit, Überschlag, Herausschleudern aus dem PKW, Zweiradunfall oder Kollision mit Bus, LKW etc.
    • Sturz aus über 3 m Höhe
    • Überrolltrauma
    • direkter Sturz auf das Becken
  • zusätzlich zu erfassen/dokumentieren
    • Gurtprellmarken
    • Druck- und Bewegungsschmerz im vorderen und/oder hinteren Beckenring
    • hämodynamische Instabilität bei nicht auszuschließendem Beckentrauma (mit peripelvinen Gefäßverletzungen)
    • neurologisches Defizit in der unteren Extremität ohne offensichtliche Verletzung derselbigen
    • Minderperfusion der unteren Extremität ohne offensichtliche Verletzung der Gefäße an der Extremität
    • gespanntes Abdomen nach Trauma

Vorerkrankungen und Verletzungen

  • lokale Vorerkrankungen und Verletzungen
    • Frakturen des Beckenrings
    • Arthrose an Hüft- oder Kniegelenk
    • Hüftgelenkverletzungen, -erkrankungen
    • Wirbelsäulenverletzungen
    • Infektionen an Knochen und Gelenken
    • lokale Hauterkrankungen
    • vorbestehende Beinlängendifferenz oder Achsfehlstellung
    • Wirbelsäulen- und Beckenpathologien
    • maligne Erkrankungen, Metastasen
    • neurologische Erkrankungen
  • allgemeine Vorerkrankungen und Verletzungen
    • allgemeine Erkrankungen und Knochenerkrankungen (System- und neurologische Erkrankungen / Osteoporose)
    • Multiple Sklerose (deutlich erhöhtes Frakturrisiko)
    • Thrombose, Embolie, postthrombotisches Syndrom
    • Gerinnungsstörung
    • arterielle Verschlusskrankheit
    • Diabetes mellitus
    • Hepatitis B/C, HIV
    • Beinödeme verschiedener Ätiologien
    • Hauterkrankungen
    • Allergien, speziell Medikamenten- und Metallallergien
    • maligne Erkrankungen
    • multiresistente Keime
    • Tetanus-Impfstatus
    • COVID-19 Erkrankung, PCR Nachweis von SARS-CoV-2

wichtige Begleitumstände

  • Abklärung der funktionellen und sozialen Situation vor dem Unfall
  • Unfallort, Auffindungsort
  • Unfallzeitpunkt und Zeitraum bis Klinikaufnahme
  • bisherige Versorgung der Verletzungen
  • Alkohol-, Nikotinabusus
  • Drogen
  • gerinnungshemmende Medikamenteneinnahme (ASS, Cumarine, orale Antikoagulantien)
  • Medikamenteneinnahme, die das Operations- und Narkoserisiko erhöhen (Metformin, orale Antidiabetika, Kortison, Antihistaminika, Antihypertonika)
  • funktioneller Status vor Unfall
  • soziales Umfeld
  • Berufsanamnese

niedrigenergetische Unfälle und Fragilitätsfrakturen

  • Osteoporose, Bestrahlung, Knochenstoffwechselstörung, langfristige Steroideinnahme
  • vorherige Frakturen
  • Hinweis auf schleichenden Beginn mit langsamer Verschlechterung der Mobiltät
  • erinnerliche, auslösendes Ereignis (Bagatelltrauma)
  • Begleitumstände
    • Nebenerkrankungen
    • kognitiver Zustand mit besonderer Berücksichtigung der Compliance
    • Maß an Selbstständigkeit vor der Fraktur (z.B. Versorgung mit Pflegedienst)
    • Mobilisation vor Schmerzbeginn/Trauma
    • bestehende Osteoporosemedikation/ letzte Knochendichtemessung
    • allgemeine Medikation
    • Schmerzmedikation mit Dynamik

Diagnostik

  • RR, Puls, BGA (BE, Laktat, pH) & Labor (Hb, Gerinnung) bzgl. Schock/Blutverlust
  • Stabilitätstestung durch Kompression der Darmbeinschaufeln durch erfahrene*n Unfallchirurg*in, Mehrfachuntersuchung vermeiden
  • Durchbewegen der Hüftgelenke
  • arterielle und venöse Durchblutung
  • periphere Motorik & Sensibilität
  • Neurologie mit Zeitpunkt des Beginns und Progredienz
    • Kribbelparästhesien
    • Paresen
    • alle sensiblen und motorischen neurologischen Ausfallserscheinungen inkl. möglicher sakraler Aussparung
    • Blasen- und Mastdarmfunktion
  • Einschätzung und Klassifizierung des Weichteilschadens mit Dokumentation von Hämatom, Wunden, Schürfung, Kontusionszone, Blasen, Fremdkörper etc.
  • digital rektale Untersuchung (v.a. bei gynäkologischer/urogenitaler Begleitverletzungen, peripelvinem Hämatom oder Blutungen aus Anus
  • Bildgebung
    • FAST-Sonographie
    • bei Monoverletzung Beckenübersicht mit ergänzenden Spezialaufnahmen
    • bei Mehrfachverletzung Sonographie plus Ganzkörper-CT mit Kontrastmittel (TraumaScan)
    • CT-Becken bei geriatrischen Frakturen

Differenzialdiagnosen

  • Acetabulumfraktur
  • Wirbelsäulenfraktur
  • Schenkelhalsfraktur
  • Adduktorenruptur
  • Muskelabrisse

Therapie

  • grundsätzlich bei Arbeitsunfall Vorstellung bei für Durchgangsarztverfahren zugelassenen Ärztin/Arzt

hochenergetische Unfälle

  • Analyse des Unfallhergangs
    • Richtung und Maß der einwirkenden Kräfte
    • weichteilrelevante Unfall-/Verletzungsmechanismen (z.B. Zerquetschung, Ablederungen durch direkten Aufprall)
  • Becken sollte präklinisch klinisch untersucht werden (CAVE: jegliche Stabilitätstestung ist jedoch kritisch zu bewerten)
  • Immobilisation auf Vakuummatratze zur Immobilisation des Stammskeletts (CAVE: Effekt auf die Beckenstabilisierung gibt es nicht)
  • bei präklinischem Verdacht auf relevante Beckenverletzung nicht-invasive externe Beckenstabilisierung, z.B. Pelvic Binder, durchführen (CAVE: Abnahme Beckengurt nur unter Kontrolle der Vitalparameter)
  • steriles Abdecken von offenen Verletzungen
  • Monitoring: RR, EKG, SpO2, pDMS (Durchblutung, Motorik & Sensibilität) sowie, falls verfügbar, eFAST-Untersuchung bzgl. freier Flüssigkeit im kleinen Becken
  • bei Mehrfachverletzung Vorgehen gemäß S3-LL Polytrauma/ Schwerverletztenbehandlung mit Transport in Traumazentrum
  • ggf. Anlage transurethraler Blasenkatheter
  • grundsätzlich bei V.a. relevante Beckenverletzung Transport in regionales/ überregionales TraumaZentrum
  • Dokumentation
    • Unfallhergang
    • klinischer Untersuchungsbefund und dessen Dynamik
    • Vitalparameter Entwicklung/Veränderungen
    • nach Möglichkeit Fotodokumentation bei offenen Verletzungen
    • Unfall im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung

niedrigenergetische Unfälle und Fragilitätsfrakturen

  • Lagerung zum Transport angepasst an Symptomatik
  • Monitoring angepasst an die Situation
  • Analgesie
Published inLeitlinien kompakt

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