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Positionspapier „Ökologische Nachhaltigkeit in der Anästhesiologie und Intensivmedizin“ der DGAI & BDA

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin und Berufsverband Deutscher Anästhesisten
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 07.08.2020
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.19224/ai2020.329

Grundsätzliches

  • Klimawandel wird in den nächsten Jahrzehnten zu einer erheblichen Verschlechterung der Gesundheitsversorgung sehr vieler Menschen führen und die Gesundheitssysteme fast aller Länder vor große Herausforderungen stellen
  • Gesundheitssektor ist in erheblichem Ausmaß Emittent von Treibhausgasen und war 2014 für 4,4 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich
  • CO2e (CO2­-Äquivalent): Umrechnung einer entsprechenden Menge von CO2 mit vergleichbarem Effekt in der Atmosphäre für andere Treibhausgase als CO2
  • GWP (Global Warming Potential): Stoff-spezifischen Treibhauseffekt im Vergleich zum Referenzgas CO2 über einen gewissen Zeitraum (i.d.R. Zeitraum von 100 Jahren, GWP100)
  • LCA (Life Cycle Assessment): Analyse des ökologische Fußabdruck „von der Wiege bis ins Grab” unter Berücksichtigung von
    • Gewinnung des Rohstoffes
    • Verarbeitung und Manufaktur
    • Transportwege und Verpackung
    • Nutzung, Wiederverwertung und Instandhaltung
    • Recycling
    • Entsorgung

Bereich „Medikamente“

  • Volatile Anästhetika und Lachgas sind potente Treibhausgase (klimaschädliche Potenz erheblich höher als bei CO2)
    • Sevofluran und Desfluran –> Fluorkohlenwasserstoffen (FKW)
    • Isofluran, Enfluran und Halothan sowie Lachgas (N2O) –> Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW)
  • volatile Anästhetika werden im Bereich der klinischen Anästhesie derzeit vollständig in die Umwelt abgegeben und haben dadurch einen erheblichen Einfluss auf den Treibhauseffekt (weltweiten Emissionen 2014: 3.000.000 t CO2-Äquivalent, wobei Desfluran 80 % ausmacht)
  • durchschnittliche Anästhesiologie-Abteilung verursacht je nach Nutzung 3,5 – 118,3 kg CO2-Äquivalent pro Anästhesiefall (bei 10.000 Anästhesiefällen pro Jahr gleich viel wie der jährlichen CO2-Fußabdruck von bis zu 200 durchschnittlichen Bundesbürger*innen)
  • Vermeidung von Desfluran könnte 67 % der CO2-Emissionen einer Anästhesiologie-Abteilung einsparen
  • bis zu 20 % des Propofol-Verwurfs wären als vermeidbar einzustufen (Wechsel von 20 mL-Ampullen anstatt 50 oder 100 mL-Ampullen könnte Verwurf um 90 % reduzieren)
  • 50 % der aufgezogenen Notfallmedikamente unbenutzt verworfen –> Wechsel auf in der Apotheke aufgezogene oder extern erworbene Fertigspritzen könnte Verwurf reduzieren)
  • durch nicht fachgerechte Entsorgung können Medikamente in die Umwelt gelangen (Propofol z.B. hat Hazard Score von 4 und ist weder in Wasser noch unter anaeroben Bedingungen biologisch abbaubar)
StoffGWP100GWP20atmosphärische Lebensdauer in Jahren
(Verweilzeit bis Gas aus Atmosphäre verschwunden ist)
CO21130 – 95
N2O298289111
Sevofluran1304401,1
Desfluran2540681014
Isofluran51018003,2
Halothan501901,0
Enfluran68023704,3
Global Warming Potentials und atmosphärische Lebensdauern von inhalativen Anästhetika
Quelle: Sulbaek Andersen MP, Nielsen OJ, Wallington TJ, Karpichev B, Sander SP: Medical intelligence article: assessing the impact on global climate from general anesthetic gases. Anesth Analg 2012;114(5):1081–1085
NarkosegasMinimal-­Flow-Anästhesie
0,5 L/min
Low­-Flow-Anästhesie
1 L/min
High­-Flow-Anästhesie
2 L/min
High­-Flow-
Anästhesie
5 L/min
Sevofluran
2,2 %
19,3 km38,6 km77,2 km183,5 km
Desfluran
6,7 %
898,0 km1825,0 km3650,0 km9067,0 km
Isofluran 1,2 %38,6 km67,6 km144,8 km366,9 km
Lachgas (N2O) 60 %280,0 km550,4 km1081,5 km2723,0 km
Emissionen durch 6 h inhalative Allgemeinästhesie im Steady-State umgerechnet in zurückgelegten Auto-km
Quelle: Sherman J, Feldman J, Berry JM: Reducing Inhaled Anesthetic Waste and Pollution Anesthesiology News. Anesthesiology News 2017;12–14

Empfehlungen im Bereich „Medikamente“

  • Anästhesien mit volatilen Anästhetika und/oder Lachgas so führen, dass möglichst wenige Anästhetika in die Umwelt abgegeben werden (konsequente Nutzung von Minimal-Flow-Anästhesien)
  • Verwendung von Desfluran nur in Fällen, in denen es medizinisch dringend erforderlich erscheint (Sevofluran hat von allen handelsüblichen volatilen Anästhetika das geringste Treibhauspotenzial)
  • Vermeidung von Lachgas, soweit es nicht medizinisch dringend notwendig erscheint
  • Vorantreiben von Entwicklung, Erprobung und Verwendung von Scavenging- & Recyclingystemen für inhalative Anästhetika
  • bevorzugte Nutzung von Total Intravenösen Anästhesien (TIVA) und Regionalanästhesien, sofern medizinisch angemessen (weniger verfahrensimmanente direkte Treibhausgasemissionen)
  • Vermeidung von Medikamentenverwurf aus ökonomischen und ökologischen Gründen
  • fachgerechte Entsorgung von Medikamentenreste (kein Gelangen ins Abwassersystem)

Bereich „Sachartikel“

  • waschbare, wiederverwertbare OP-Textilien (OP-Mäntel, Abdecktücher) haben ca. 30 – 50 % geringeren CO2-Fußabdruck als Einwegartikel
  • Einwegartikel verbrauchen, auch unter Berücksichtigung des Wasser- bzw. Energiebedarfs beim Waschen und Sterilisieren der Mehrwegartikel, 200 – 300 % mehr Energie, 250 – 330 % mehr Wasser und produzieren 750 % mehr Müll
  • Mehrwegartikel schneiden nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht besser ab (z.B. Einweg- & Mehrweg-Medikamentenschalen)
  • CO2-Emissionen bei der Nutzung von Einweglaryngoskopen sind 16 – 25-fach höher als Mehrweginstrumenten aus rostfreiem Stahl (v.a. wenn auch Handgriffe Einwegmaterial sind)
  • Nutzung von Einweginstrumenten aus Metall (Laryngoskope, Scheren, Nadelhalter, Pinzetten etc.) ist laut der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene in besonderen Maße bedenklich, da neben hohem Ressourcenverbrauch durch irrtümliches Einbringen der Einwegprodukte in Sterilisationsprozess eine erhebliche Korrosionsgefährdung auch der übrigen Instrumente entsteht und die Einwegprodukte zusätzlich oft unter problematischen ethischen Bedingungen in unterentwickelten Ländern hergestellt werden –> Verwendung von Mehrwegartikeln aus recyceltem Stahl reduziert bei einer Menge von 1 t die CO2-Emissionen um ca. 80% verglichen mit der Produktion von Metall aus Rohmaterialien

Empfehlungen im Bereich „Sachartikel“

  • zunehmenden Ersatz von Mehrweg- durch Einwegprodukte kritisch hinterfragen (Prüfung, an welchen Stellen Mehrwegprodukte eine Alternative darstellen)
  • Nutzung von Mehrwegtextilien wie sterile Kittel, OP-Hauben & Abdecktücher erwägen, v.a. aber Reduktion von bzw. Ersatzbeschaffung für Einwegartikeln aus Metall
  • vollständiges Life-Cycle-Assessment des CO2-Fußabdrucks für alle Medizinprodukte durch Hersteller

Bereich „Abfallmanagement“

  • ca. 20 – 30 % des Krankenhausabfalls entsteht im OP, 25% davon in der Anästhesie (v.a. durch Verpackungen
  • pro OP-Fall entstehen zwischen 7,62 kg und 16,39 kg Abfall
  • alleine durch Rohstoffgewinnung, materialspezifische Produktion, Transport und Entsorgung (ohne Berücksichtigung weiterer CO2-Emissionen für die produktspezifische Herstellung und die Verpackung des Gegenstands) fallen für Plastik ca. 3.254 kg CO2e/Tonne, für Stahl ca. 2.708 kg CO2e/Tonne und für Glas ca. 895 kg CO2e/Tonne an
  • Konzept der 5 R‘s
    • Reduce (Weniger ist mehr“ ist die effektivste Methode, weniger Ressourcen zu verbrauchen und Abfall zu reduzieren)
    • Reuse (siehe Bereich „Sachartikel“)
    • Recycle (ca. 60 % des OP-Abfall sind potentiell recycelbar)
    • Rethink (Umdenken in vielen Bereichen)
    • Research (wissenschaftliche Untersuchungen bzgl. Reduktion von klimaschädlichen Prozessen oder Materialien, um Wissen zu schaffen, zu reproduzieren und zu kommunizieren)

Empfehlungen im Bereich „Abfallmanagement“

  • Implementierung des Konzepts der 5 R‘s des Abfallmanagements (Reduce, Reuse, Recycle, Rethink und Research)
  • verpflichtender Nachweis eines funktionierenden Recyclingkonzepts in allen OP-Bereichen und Intensivstationen
  • Verpackungsherstellung aus möglichst sortenreinem Plastik, welches hochwertig recycelt werden kann
  • Vermeidung von gefährlichen Abfällen, v.a. aufgrund der sehr hohen CO2-Emissionen bei der Entsorgung (CAVE: Vermeidung, dass Abfälle die auch als gewöhnliche Abfälle entsorgt oder recyclelt werden können, unreflektiert und aus Bequemlichkeit als gefährliche Abfälle entsorgt werden)

Bereich „Mobilität“

  • PKW-Besetzungsgrad liegt im täglichen Berufsverkehr im Mittel bei 1,2 Personen
  • Fahrt zur Arbeit macht ca. 12 – 39 % des CO2-Fußabdrucks einer Anästhesie-Abteilung aus
  • Etablierung von Anreizstrukturen bzw. Forderung an Politik
    • Förderung der Fahrradinfrastruktur mit ausreichend vorgehaltenen Fahrradstellplätzen auf dem Klinikgelände
    • gute Anbindung der Krankenhäuser an Fahrradschnellwege und ÖPNV
    • Ladestrukturen für E-Mobilität
    • „Job-Tickets“ (Angebot kann Umstieg auf ÖPNV fördern)
    • krankenhausinterne Pendlerportale/Mitfahrzentralen für Arbeitnehmer, v.a. in ländlichen Regionen
    • vermehrter Ausbau von Homeoffice-Angeboten und Videokonferenzen, wo möglich
  • unumgängliche Umstellung auf alternative, nicht-fossile Antriebsarten (Elektromobilität, Wasserstoff-Brennzelle) im Bereich des Rettungsdienstes
  • kritisches Hinterfragen von Systeme mit besonders hohem Verbrauch an fossilen Energieträgern wie die Luftrettung bei klinisch nicht zwingender Notwendigkeit
  • zur Reduktion der hohen Quote an Notarzteinsätzen ohne ärztliche Intervention kann Telemedizin die Notwendigkeit eines zweiten Fahrzeuges reduzieren (telemedizinische ärztliche Visite ist ab einer Entfernungen von mehr als 3,5 km die klimafreundlichere Alternative)
  • allein durch die Anreise der Teilnehmenden entsteht ein CO2-Fußabdruck von 22.000 t für einen einzelnen internationalen Kongress (entspricht mittlerem jährlichen CO2-Fußabdruck von 2.000 Bundesbürger*innen)
    • 230 g CO2e pro Personenkilometer bei Anreise mit dem Flugzeug
    • 147 g CO2e pro Personenkilometer bei Anreise mit dem PKW
    • 32 g CO2e pro Personenkilometer bei Anreise mit der Bahn

Empfehlungen im Bereich „Mobilität“

  • Entwicklung & Förderung alternativer Mobilitätskonzepte, da Arbeitswege einen wesentlichen Anteil des CO2-Fußabdrucks von anästhesiologischen Abteilungen ausmachen
  • Nutzung von Elektromobilität und/oder Etablierung von Telemedizin in der präklinische Notfallmedizin und bei Intensivtransporten
  • kritisches Hinterfragen von luftgebundenen Patiententransporten
  • Nutzung von ÖPNV zur Anreise bei Kongressen oder der Verbandsarbeit (bei zwingend notwendiger Nutzung des Flugverkehrs CO2-Kompensation des Fluges erwägen)
  • Kongress-Streaming, Videokonferenzen und Webinare anbieten und fördern

Energiemanagement

  • Energieverbrauch des OP-Bereichs übersteigt den der übrigen Klinik um das 3- bis 6-Fache (90 – 99 % der Energie im OP-Bereich allein durch Heizung, Klimaanlage und Lüftung)
  • durch Energiesparmaßnahmen kann der CO2-Fußabdruck des OP-Bereiches um 50 % reduziert werden und so auch Kosten gespart werden
  • Versorgung eines Intensivpatienten verursacht täglichen Emissionen zwischen 88 – 178 kg CO2e/Patiententag (76 – 87 % des CO2-Fußabdrucks sind Energieverbrauch)

Empfehlungen im Bereich „Energiemanagement“

  • Implementierung von Konzepten zur Reduktion des beträchtlichen Energieverbrauch durch Heizung, Lüftung und Klimaanlage im OP- und Intensivbereich (z.B. Herunterregulieren der Anlagen in ungenutzten Sälen außerhalb der Kernbetriebszeit, Optimierung der Einstellung von Temperatur und Lüftung etc.)
  • flächendeckende Umstellung auf erneuerbare Energien in allen deutschen Kliniken

Bereich „Forschung und Lehre“

  • laut WHO-Schätzung wird es zwischen 2030 – 2050 ca. 250.000 zusätzliche Todesfällen pro Jahr aufgrund des ungebremsten weiteren Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur geben, v.a. ausgelöst durch Hitzewellen und Naturkatastrophen
  • pulmonale, respiratorische, nephrologische und infektiologische Erkrankungen werden durch den Klimawandel im relevanten Maße zunehmen mit erheblichen Auswirkungen auf die benötigten notfallmedizinischen und intensivmedizinischen Versorgungskapazitäten
  • Gesundheitssektor ist mit realer Wertschöpfung von 11,2% des BIP wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland und gleichzeitig liegt der Anteil der Treibhausgasemissionen des Gesundheitssektors bei 6,7 % (ca. 55.100.000 t CO2 jährlich bzw. 0,68 t CO2/Einwohner)
  • CO2-Fußabdruck des Gesundheitssektors ist bisher kaum untersucht und sollte mehr ins Zentrum der Forschung und auch Lehre gerückt werden

Empfehlungen im Bereich „Forschung und Lehre“

  • Ausweitung & Förderung der Forschung zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die intensivmedizinische und notfallmedizinische Versorgung und Versorgungskapazitäten
  • spezifische Forschung zur Medikamentenauswahl sowie die optimierte Nutzung von volatilen Anästhetika und Medizinprodukten in Bezug auf die ökologische Nachhaltigkeit der Anästhesiologie und Intensivmedizin
  • ökologisch verantwortliche und CO2-neutrale Planung, Organisation & Durchführung von Konferenzen, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen
  • Etablierung der Nachhaltigkeitsaspekte im Gesundheitswesen als integralen Bestandteil der studentischen Ausbildung und ärztlichen Weiterbildung (Integration in Aus-, Fort- und Weiterbildungscurricula)
  • vermehrte Informations- und Schulungsmaßnahmen, um Mitarbeitende zu klimafreundlichem Verhalten motivieren
Published inWelttag...

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