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Was ist eigentlich… eine dissoziative Erkrankung/Störung?

Der Begriff der „Dissoziation“ wird immer noch uneinheitlich gebraucht und schließt ein großes Feld phänomenologischer Aspekte mit ein bzw. das klinische Bild ist äußerst vielgestaltig. Die International Classification of Diseases in der 11. Version zählt die folgenden Kriterien als charakterisierend auf:

  • unwillkürliche Unterbrechung oder Diskontinuität der normalen Integration eines oder mehrerer der folgenden Bereiche: Identität, Empfindungen, Wahrnehmungen, Affekte, Gedanken, Erinnerungen, Kontrolle über Körperbewegungen oder Verhalten
  • Unterbrechung oder Diskontinuität kann vollständig sein, ist aber häufiger partiell und kann von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde variieren
  • Symptome sind nicht auf die direkte Medikamenten-/Substanz-Wirkung zurückzuführen oder durch eine andere psychische Störung, Verhaltensstörung oder neurologische Entwicklungsstörung, Schlaf-Wach-Störung, Erkrankung des Nervensystems oder einen anderen Gesundheitszustand erklärbar und sind kein Teil einer anerkannten kulturellen, religiösen oder spirituellen Praxis
  • dissoziative Symptome sind so schwerwiegend, dass sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen

Hinsichtlich der Klassifikation kann man die dissoziativen Störungen im Sinne des ICD-11 in die zwei Gruppen einteilen:

  • dissoziative Störungen auf psychischer Ebene
    • dissoziative Amnesie (6B61)
      • mit dissoziativer Fugue (6B61.0)
      • ohne dissoziative Fugue (6B61.1)
    • Trancestörung (6B62)
    • Besessenheitstrance-Störung (6B63)
    • dissoziative Identitätsstörung (6B64)
    • partielle Dissoziative Identitätsstörung (6B65)
    • Depersonalisations- / Derealisationsstörung (6B66)
  • dissoziative Störungen auf körperlicher Ebene
    • dissoziative Störung mit neurologischen Symptomen wie Sehstörung, Hörstörung, Schwindel oder Benommenheitsgefühl, nichtepileptischer Anfall etc. (6B60)

Die Verteilung der dissoziativen Symptome haben Lyssenko, Schmahl et al. 2017 im American Journal of Psychiatry publiziert:

Quelle: Lyssenko, L., Schmahl, C., Bockhacker, L., Vonderlin, R., Bohus, M., & Kleindienst, N. (2018). Dissociation in Psychiatric Disorders: A Meta-Analysis of Studies Using the Dissociative Experiences Scale. The American journal of psychiatry175(1), 37–46. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2017.17010025

Hinsichtlich der Epidemiologie finden sich sehr uneinheitlich Zahlen, was vor allem auf die großen Unterschiede bei den Diagnosekriterien und auf stark diviergierende kultureller Faktoren zurückzuführen ist. Jedoch tauchen die folgenden Zahl häufiger in der einschlägigen Literatur auf:

  • Lebenszeitprävalenz: 0,5 – 4 %
  • Einzel-Punktprävalenzen
    • dissoziative Amnesie: ca. 3 – 5 %
    • dissoziative Störungen mit neurologischen Symptomen: ca. 0,5 %
    • dissoziative Identitätsstörung: < 1 %
    • Depersonalisations-/Derealisationsstörung: < 1 %
  • alle Altersgruppen betroffen (Häufigkeitsgipfel zw. 17. & 40. Lebensjahr)
  • Frauen bei einigen Formen scheinbar häufiger betroffen als Männer (ca. 3:1; bei Depersonalisations-Derealisationsstörungen: 1:1)
  • häufige Komorbiditäten sind Angststörungen (25 – 90 %), Depressionen (70 – 90 %,  somatoforme Störungen (ca. 15 %) sowie Persönlichkeitsstörungen (Cluster A: 58 %, Cluster B: 68 %, Cluster C: 37 %)
  • in ca. 40 % der diagnostizierten dissoziativen Störungen wird die Diagnose „Dissoziative Störung, nicht näher bezeichnet“ vergeben
  • Punktprävalenz dissoziativer Störungen auf psychischer Ebene in der Allgemeinbevölkerung beträgt 2–5 %, wobei sich vereinzelt auch Raten von bis zu 10 % fanden
  • in klinischen Populationen schwanken die Prävalenzraten dissoziativer Störungen zwischen 5 und 20 %
  • Prävalenz in europäischen Ländern liegt bei ca. 5 %
  • Erkrankungsbeginn liegt in etwa 75 % d. F. zwischen dem 17. und dem 32. Lj., wobei bis zur Diagnosestellung meist eine lange psychiatrische Vorgeschichte besteht

Das Entstehen dissoziativer Erkrankungen ist i.d.R. multifaktoriell bedingt durch genetische, neurobiologische und psychosoziale Faktoren. Grundsätzlich kann man aber konstatieren, dass innerseelische Konflikte quasi in eine Körpersprache übersetzt werden. So kann man z.B. die Lähmung der Beine als eine Art Unfähigkeit zur Flucht bzw. als Anzeichen, dass es so nicht mehr weitergeht interpretieren. Was viele Betroffene berichten sind v.a. starke körperliche und/oder psychische Traumatisierungen in Gegenwart und/oder Vergangenheit wie z.B. sexueller/körperlicher Missbrauch, emotionale Vernachlässigung und Deprivation. Jedoch ist zu betonen, dass man die Ätiologie hier nicht nur monokausal betrachten sollte.

dissoziative Störung mit neurologischen Symptomen (ICD11-6B60)

dissoziative Amnesie mit/ohne dissoziative Fugue (ICD11-6B61)

Trance-Störung (ICD11-6B62)

Besessenheitstrance-Störung (ICD11-6B63)

(partielle) dissoziative Identitätsstörung (ICD11-6B64/6B65)

Depersonalisations- oder Derealisationsstörung (DDS; ICD11-6B66)

Viele von uns werden selbst schon eine Depersonalisations- oder Derealisationsstörung gehabt haben, denn diese sind nicht zwangsläufig krankheitsbedingt. Mit einer Lebenszeitprävalenzrate von 26 – 74 % hatten/haben schon viele Menschen in ihrem Leben schon min. eine transiente Depersonalisation- oder Derealisation-Erfahrung gemacht, aber nur in ca. 2 % der Fälle haben die Depersonalisationen und/oder Derealisationen einen relevanten Krankheitswert und erfüllen die Diagnosekriterien.

Aber was ist eigentlich eine Depersonalisation und Derealisation? Beides sind Reaktionsmöglichkeiten des Körpers auf externe Einflüsse, v.a. Stress, und etwas ganz normales. Dies zeigt sich auch in unserer Sprache, wenn wir Redewendungen nutzen wie „benebelt sein“ oder „neben sich stehen“. Jetzt aber wirklich mal zur genaueren Einordnung! Bei einer Depersonalisation kommt es zum Gefühl der Entfremdung bezogen auf den eigenen Körper sowie das personale Selbst (Störung des Ich-Erlebens, Ich-Emfindens wie z.B. Wahrnehmung von Körperteilen als zu klein oder zu groß) und eine Derealisation ist das Gefühl der Entfremdung ggü. der Umwelt (z.B. Wahrnehmung von Gegenständen in 2D oder zu nah/weit). Bei beiden Phänomen ist aber im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern wie der Psychose die Realitätsprüfung noch intakt. Beide Phänomene können zusammen, aber auch getrennt auftreten. Nicht selten stellen Depersonalisation und Derealisation ein Symptom bei einer Reihe psychiatrischer Erkrankungen wie z.B. bei Angst- & Panikstörung , Zwang, Depression, Schizophrenie, beim Borderline-Muster oder anderen dissoziativen Erkrankungen sowie bei somatischen Störungen wie Epilepsie, Migräne, Substanzmissbrauch oder Entzug.

Für die Patient*innen sind die Wahrnehmung oftmals sehr unangenehm und fremdartig. Sie können oft nur schwer verbalisiert werden und es finden sich oft typische „als wie“-Beschreibungen.

    Epidemiologie

    Hinsichtlich epidemiologischer Daten ist initial zu betonen, dass es für den deutschsprachigen Raum nur wenige Daten bzw. Studien gibt. Die vorliegenden Studien, die v.a. aus dem angloamerikanischen Raum sind, ergaben aber z.B. die folgenden Ergebnisse:

    • Krankheitsbeginn
      • Erstmanifestation im Mittel im Alter von 16 ± 8 Jahren
      • Erstmanifestation > 20. Lebensjahr bei < 20 % und Erstmanifestation > 25. Lebensjahr bei rund 5 %
      • häufigeres Auftreten bei Patient*innen mit psychischen Störungen
      • Beginn ist in 50 % der Fälle akut und in 50 % progredient
    • etwa 200.000 Menschen in den USA erleben täglich ein Depersonalisationsereignis
    • Prävalenz von rund 1 – 2 % (wahrscheinlich aber stark unterdiagnostiziert; für Deutschland keine Bevölkerungsstudien vorliegend)
      • 0 – 1,9 % in der Allgemeinbevölkerung
      • 5 – 20 % bei ambulanten Patient*innen
      • 17,5 – 41,9 % bei stationären Patient*innen
      • Punktprävalenz: ca. 0,8%
    • betroffen sind z.B. bis zu 66 % der Betroffenen eines traumatischen Ereignisses, 30 % der Kriegsveteran*innen (mit PTBS), 11 % der Patient*innen mit einem schweren SHT sowie bis zu 79 % der Menschen, die mit akutem Stress zu kämpfen haben
    • 40 % wegen einer psychischen Störung stationär behandelten Patient*innen erlebten ein Depersonalisationserlebnis
    • Manifestation ist bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig (Frauen haben insgesamt häufiger einzelne Depersonalisationssymptome)
    • bei einer tatsächlichen 1-Jahresprävalenz von etwa 1 % muss angenommen werden, dass nur max. 1 von 100 Betroffenen die DDS-Diagnose erhalten hat
    • vom Erstkontakt mit Psychiater*in, Psycholog*in o.Ä. bis zur Diagnosestellung vergehen 7 – 12 Jahre
    • 6-Monats-Prävalenz von 60 % für klinisch relevante DDS in der stationären Kinder- & Jugendpsychiatrie

    Ätiologie

    Nicht selten beginnt eine DDS mit einer depressiven Episode (9 %) oder Panikattacken (12 %). In rund 49 % ist der Auslöser für eine Depersonalisations- oder Derealisationsstörung aber nicht identizifizierbar. In 25 % der Fälle sind sie mit starkem Stress assoziiert. Beispiele hierfür sind u.a. emotionale/körperliche Misshandlung/Missbrauch, Erleben von häuslicher Gewalt (auch im familiären Umfeld), schwer beeinträchtigte oder psychisch erkrankte Elternteile oder unerwartete Todesfälle im persönlichen Umfeld. Weitere typische Auslöser sind z.B.:

    • überfordernde psychosoziale Belastungen (zwischenmenschlich, finanziell, beruflich)
    • extrem stressauslösende & lebensbedrohendliche Erlebnisse (z.B. Nahtoderfahrungen)
    • Cannabiskonsum in rund 13 % der Fälle (weitere seltenere Drogen als Auslöser sind Halluzinogene, Ecstasy, Ketamin oder Alkohol)
    • organische Erkrankungen (v.a. Epilepsien, Migräne, vestibuläre Störungen, SHT oder das Kleine-Levin-Syndrom
    • Medikamente wie z.B. Antihistaminika , Benzodiazepine , Indometacin, Koffein, Minocyclin
    • emotionale Vernachlässigung
    • Prämenstruelles Syndrom
    • Schlafmangel

    Interpretiert man eine Depersonalisation als Reaktion auf zurückliegende oder aktuelle Ereignisse, so ist eine besondere Prädisposition für bewusstseinsverändernde Störungen vorrauszusetzen, denn Menschen mit ähnlichen Erlebnissen reagieren nicht mit einer Depersonalisation darauf. Typische Risikofaktoren, die in der einschlägigen Literatur zu finden sind, sind z.B.

    • Nikotinkonsum
    • Marihuanakonsum
    • Vorhandensein sozialer Ängste
    • männliches Geschlecht
    • geringere Schulbildung
    • ängstliches Temperament bzw. stark vermindertes Selbstwirksamkeitsgefühl + verminderte Fähigkeiten, Aufgaben konstruktiv anzugehen, sowie Mangel an emotionaler Unterstützung

    Auf der neurochemischen Ebene werden v.a. die folgenden Erklärungsmodelle diskutiert:

    • serotonerges System: Wahrscheinlichkeit von Symptomen erhöht sich durch Substanzen, die als Serotonin-Agonisten wirken, wie m-CPP, Cannabis, LSD und Ecstasy (nicht bekannt ist aber, ob bei einerDepersonalisation, die nicht durch Substanzen ausgelöst wird, Abweichungen im serotonergen System vorliegen)
    • glutamaterges System: Ketamin als NMDA-Antagonist kann Effekte hervorrufen, die einer Depersonalisation entsprechen (nicht bekannt ist aber, ob bei einerDepersonalisation, die nicht durch Ketamin ausgelöst wird, Abweichungen im glutamatergen System vorliegen)
    • Opioidrezeptoren: durch mehrere, kleinere Pilotstudien gestützte Vermutung, dass bei Depersonalisation eine Fehlregulation der körpereigenen opidoiden Transmittersysteme vorliegt (Opioid-Antagonisten, wie Naloxon, Naltrexon & Nalmefen, vermindern Symptome)

    Neurophysiologisch gibt es Erklärungsansätze, die das Erscheinen von Depersonalisation und Derealisation auf Abweichungen bei neuronalen Verbindungen zu Spiegelneuronsystemen zurückführen könnten. In Neuroimaging-Befundung gab es oftmals nicht einheitliche Ergebnisse, aber man kann von einer hohen neuronalen Interkonnektivität ausgehen. Detektierte Auffälligkeiten waren u.a.:

    • Unterfunktion im linken vorderen Inselcortex (wichtiger Ort für Gefühlserlebnisse und bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers)
    • erhöhte präfrontal-kortikale Aktivität (v.a. Regionen, die für die Kontextualisierung und Bewertung von emotional bedeutsamen Informationen und weniger für die Induktion von Affektzuständen verantwortlich sind) mit Hemmeffekten auf subkortikale limbische Zentren, v.a. auf die Amygdala
    • Beteiligung höherer kortikaler Assoziationsareale, die für die polymodale Integration des Körperschemas mitverantwortlich sind

    Symptomatik bzw. Diagnosekriterien

    Gemäß der ICD-11 ist die Depersonalisations-Derealisations-Störung durch folgende Kriterien gekennzeichnet:

    • anhaltende oder wiederkehrende Erfahrungen von Depersonalisation, Derealisation oder beidem
      • Depersonalisation = Selbst wird als fremd oder unwirklich empfunden ODER Losgelöstsein von den Gedanken, Gefühlen, Empfindungen bzw. dem eigenen Körper oder den eigenen Handlungen ODER man tut so, als wäre man ein Beobachter von außen
      • Derealisation = Erleben anderer Personen, Objekte oder der Welt als fremd oder unwirklich (z.B. traumhaft, weit entfernt, nebelig, leblos, farblos oder visuell verzerrt) ODER Gefühl sich von der eigenen Umgebung losgelöst zu fühlen
    • intakte Realitätsprüfung
    • Depersonalisations- oder Derealisationserfahrungen treten nicht ausschließlich im Rahmen einer anderen dissoziativen Störung auf
    • Depersonalisations- oder Derealisationserfahrungen lassen sich nicht besser durch eine andere psychische, verhaltensbezogene oder neurologische Entwicklungsstörung erklären
    • Depersonalisations- oder Derealisationserfahrungen sind nicht auf die direkten Auswirkungen einer Substanz oder eines Medikaments auf das zentrale Nervensystem zurückzuführen, auch nicht auf Entzugserscheinungen, und sind nicht auf eine Erkrankung des Nervensystems oder ein Kopftrauma zurückzuführen
    • Symptome führen zu erheblichem Leid oder Beeinträchtigungen in persönlich, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

    Im DSM-5 wird die Depersonalisations-Derealisationsstörung wie folgt klassifiziert:

    • andauernde oder wiederkehrende Erfahrungen von Depersonalisation, Derealisation oder beidem
      • Depersonalisation: Erfahrungen von Unwirklichkeit, Entferntsein, oder das Gefühl, ein außenstehender Beobachter gegenüber den eigenen Gedanken, Gefühlen, Empfindungen, Körper oder Handlungen zu sein (z.B., Wahrnehmungsveränderungen, gestörtes Zeitempfinden, Empfindung des Selbst als unwirklich oder abwesend, emotionale und/oder körperliche Taubheit)
      • Derealisation: Erfahrungen von Unwirklichkeit und Entferntsein in Bezug auf die Umgebung (z.B. werden Personen oder Dinge als unwirklich, traumartig, wie hinter einem Nebelschleier, leblos oder verzerrt empfunden)
    • intakte Realitätsprüfung
    • Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
    • Störung ist nicht auf physiologische Effekte einer Substanz (z.B. Droge, Medikation) oder einen anderen medizinischen Krankheitsfaktor (z.B. epileptische Anfälle) zurückzuführen
    • Störung ist durch keine andere seelische Erkrankung besser erklärbar, wie z.B. eine Schizophrenie, Panikstörung, Depression, akute Belastungsreaktion, Posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere dissoziative Störung

    Hinsichtlich der genaueren Symptomatologie finden sich bei beiden Phänomenen Einschränkungen wie die Angst „verrückt“ zu werden, das Gefühl die Kontrolle über sich zu verlieren oder das quälende Gefühl einer vollkommenen Isolation und das eigene Leben zu verpassen. Die Symptome sind i.d.R. episodisch-schwankend und können wenige Stunde bis Tage, aber auch manchmal auch Wochen, Monate oder Jahre anhalten. In seltenen Fällen besteht die Symptomatik konstant und mit gleicher Intensität über Jahre/Jahrzehnte.

    Bei der Depersonalisation gibt zusätzlich u.a. die folgenden Auffälligkeiten:

    • affektive Symptome wie emotionale Taubheit, fehlende Empathie (Alexithymie), Depression, Angstzustände oder Motivationsverlust
    • kognitive Symptome wie Konzentrationsstörungen, Gedankenrasen/Gefühl der gedanklichen Leere, Gedächtnisstörungen, beeinträchtigtes visuelles Vorstellungsvermögen oder Probleme bei der Verarbeitung neuer Informationen
    • physiologische/perzeptuelle Symptome wie partielle/vollständige physiologische Taubheit, Gefühl der Gewichtslosigkeit/Leichtigkeit, Benommenheit/Schwindelgefühl, Erkennungsverlust von eigenem Spiegelbild & Stimme, veränderte Zeitwahrnehmung, sensorische Störungen von Geschmack, Tastsinn, Größer- & Kleinersehen (z.B. erscheinen Körperteile plötzlich als zu klein oder zu groß) oder sensorische Verzerrungen von Geräuschen. & Farbverlust sowie Gefühl, das die Welt flach & zweidimensional erscheint

    Bei der Derealisation gibt zusätzlich u.a. Auffälligkeiten wie die Wahrnehmung der Umgebung wird wie durch einen Schleier oder wie in einem Traum sowie das Gefühl, dass die Welt unwirklich, fade oder leblos erscheint.

    Wichtig zu betonen ist aber, dass das Depersonalisations-/Entfremdungsgefühle auch bei Gesunden vorübergehend auftreten können, v.a. bei Stress oder großer Angst, bei Schlafmangel, nach der Einnahme von Drogen oder im Rahmen einer Migräne. Diese Gefühle sind jedoch erst pathologisch, wenn diese regelmäßig oder dauerhaft auftreten.

    Diagnostik

    Wie bei allen psychiatrischen Erkrankungen hat auch bei Depersonalisationen und/oder Derealisationen neben der psychiatrisch-pychologischen Diagnostik eine vollständige körperliche Diagnostik zu erfolgen, um etwa Differentialdiagnosen auszuschließen. Die Differentialdiagnostik ist v.a. auch wichtig, da Symptome von Depersonalisation bei vielen unterschiedlichen Krankheiten vorkommen können wie z.B. im Rahmen von Panikattacken.

    Zur Diagnostik können u.a. die folgenden Screening-Tools und Fragebögen genutzt werden

    Differentialdiagnosen

    Da eine hohe Komorbiditätsrate besteht, ist eine sorgfältige Differentialdiagnostik von hoher Relevanz!

    • psychiatrische Differentialdiagnosen
      • autistische Stressreaktionen (Overload/Meltdown/Shutdown)
      • Hypochondrie
      • Major Depression
      • Zwangsstörung
      • Angststörung
      • psychotische Störungen
      • substanzinduzierte Störungen (z.B. LSD, Cannabis)
      • organisch bedingte psychische Störungen
      • andere dissoziative Störungen
    • organische Differentialdiagnosen
      • Temporallappenepilepsie
      • Migräne
      • Gehirntumore
      • zerebrovaskuläre Erkrankungen
      • Enzephalitis
      • metabolische Störungen wie Hypoparathyreoidismus, Hypothyreose, Hypoglykämie

    Komorbiditäten

    • depressive Störung (62 %; Major Depression in 10 %; Dysthymie in 23 %)
    • Angst-Panikstörung (41 – 64 %; generalisierte Angststörung in 16 %)
    • Zwangsstörung (16 %)
    • soziale Phobie (28 %)
    • Agoraphobie (14 %)
    • bipolare Störung (8 %)
    • Schizophrenie oder schizotype Erkrankung (7 %)
    • Drogen- oder Alkoholabhängigkeit (7 bzw. 5 %)
    • PTBS
    • Persönlichkeitsstörung (52 %; v.a. ängstliche-vermeidende, Borderline- oder zwanghafte PS)
    • beginnende Demenz

    Therapie

    Wie so oft bei psychiatrischen Erkrankungen besteht auch die Therapie der Depersonalisations-Derealisations-Störung aus einem multimodalen Ansatz aus Psychotherapie und einer ggf. notwendigen psychopharmakologischen Therapie. Grundsätzlich muss man aber sagen, dass die Therapie der primären Depersonalisation-Derealisations-Störung ohne Evidenz erfolgt. Hauptziel ist die Behandlung aller aktuellen sowie früheren Belastungen, die für das Auftreten verantwortlich sind bzw. sein könnten. Sofern es sich um eine sekundäre Depersonalisations-Derealisations-Störung handelt, ist die Grunderkrankung zu therapieren.

    Das Mittel der Wahl bei der Behandlung der DDS ist und bleibt die Psychotherapie, wobei hier aktuell eher die kognitive Verhaltenstherapie im Vordergrund steht. Grundlage für die Psychotherapie ist im Rahmen der Psychoedukation die Vermittlung, dass es sich bei der DDS um eine behandelbare Krankheit handelt, um so die Angst zunehmen, dass die Patient*innen langsam verrückt werden. Darüber hinaus sollte geschaut werden wie eine geeigneter Umgang mit schwierigen Situationen aussehen kann und wie man das Stressmanagement im Allgemeinen strukturiert. Die Vermeidung von Schlafmangel, extremes Computerspielen, reizreiche Umgebungen und Substanzmissbrauch sollten überdies im Rahmen einer Lebensstilanpassung mit thematisiert werden. Wie in etwa die Behandlungsphasen & Module der Psychotherapie aufgebaut sein könnte wurde in „Psychiatrie und Psychotherapie: Klinik und Therapie psychischer Erkrankungen“ (Hrsg. Tebartz van Elst, Schramm & Berger) in Anlehnung an Priebe et al. anschaulich aufgezeigt:

    • Modul 1 – Dissoziative Symptome verstehen und Veränderungsmotivation erhöhen
      • Problem- & Verhaltensanalyse
      • Informationsvermittlung
      • Stärkung der Veränderungsmotivation
    • Modul 2 – Dissoziative Symptome erkennen und reduzieren
      • Erarbeitung von Frühwarnzeichen
      • Strategien zur Unterbrechung der Dissoziation (antidissoziative Fertigkeiten)
      • Kontingenzmanagement der Konsequenzen
    • Modul 3 – Akute Anfälligkeit reduzieren
      • Normalisierung von Trink- und Essverhalten
      • Besserung des Schlafs
      • Reduktion sonstiger Verwundbarkeitsfaktoren
    • Modul 4 – Situationsüberdauernde Anfälligkeit reduzieren
      • Verbesserung der Affektregulation
      • Kognitive Interventionen
      • Aufbau eines erfüllten Lebens
    • Modul 5 – Auslösesituationen modifizieren
      • Modifizieren ungünstiger Auslösesituationen
      • Exposition gegenüber nicht schädlichen Stimuli
      • Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung, von Angststörungen sowie weiterer ursächlicher komorbider Störungen

    Für die medikamentöse Therapie sowie sonstige nicht-psychotherapeutischen Behandlungsversuche der DDS muss konstatiert werden, dass es aktuell noch keine Medikamente gibt, die zur Behandlung des Depersonalisations-Derealisationssyndroms zugelassen sind. Alle medikamentösen Behandlungsversuche finden also als Off-Label-Use statt. Folgende Punkte werden bzgl. der psychopharmakologischen bzw. nicht-psychotherapeutischen Therapie in der einschlägigen Literatur erwähnt:

    • Nutzen von SSRI, Neuroleptika, Opioid-Rezeptor-Antagonisten und Benzodiazepinen (außer bei Angstsymptomen) nicht belegt
    • 300 mg/d Lamotrigin über 12 Wochen hat laut einer randomisierten kontrollierten Studie eine gute Responserate
    • erste Versuche mit der trans­krankiellen Hirnstimulation zeigten positive Ergebnisse
    • Antipsychotika sind nicht zur Behandlung des Depersonalisations-Derealisationssyndroms zugelassen und verschlechtern häufig das Befinden der Betroffenen
    • Antidepressiva führen i.d.R. nicht zur Reduktion der DDS-Symptomatik, haben aber einen Einfluss auf komorbide Depressionen oder Angststörungen
    • Nutzung von Benzodiazepinen zur kurzfristigen Beschwerdelinderung
    • ggf. Behandlungsversuch mit dem Opiatantagonisten Naltrexon (50-200 mg/d) mit Therapieerfolgüberprüfung nach spätestens 4 Wochen erwägen
    • keine Indikation für Elektrokrampftherapie

    Die Episoden einer Depersonalisations-Derealisationsstörung variieren hinsichtlich der zeitlichen Komponenten stark und können von nur wenigen Stunden bis zu lang anhaltenden Episoden über Wochen, Monate oder Jahre reichen. Bei ca. 1/3 ist der Verlauf anhaltend, bei rund 1/3 treten einzelne abgegrenzte Episoden auf und bei einem weiteren Drittel gehen die Episoden in einen kontinuierlichen Verlauf über. Was aber zu betonen ist, ist dass sich Patient*innen mit Depersonalisations-Derealisations-Störung oft ohne Intervention verbessern. Sofern eine primäre Depersonalisations-Derealisations-Störung in chronisch-persistierender Form vorliegt, ist ein erhöhtes Suizidrisiko zu berücksichtigen.

    Quellen

    Published inIm Notfall Psychiatrie

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