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Was ist eigentlich… eine eigenbezogene artifizielle Störung? (Münchhausen-Syndrom)

Der Begriff artifizielle Störung wird den meisten im Gesundheitswesen wahrscheinlich eher unbekannt sein. Die artifizielle Störung ist aber unter einem anderen Namen – Münchhausen-Syndrom – zumindest vielen in Teilen. bekannt. Die artifizielle Erkrankung ist einerseits Oberbegriff einer Krankheitsgruppe sowie namensgebend für die größte therapeutische Untergruppe.

Aber worum handelt es sich bei einer eigenbezogenen artifziellen Störung? Bei einer eigenbezogenen artifziellen Störung kommt es zum künstlichen Herbeiführen körperlicher und/oder psychischer Symptome, welche meist auch aggraviert, also sukzessive verschlimmert werden. Das eigene Kranksein bzw. die selbst initiierten Krankheitsbilder werden quasi zum zentralen Element des Lebens betroffener Personen.

Die ersten Beschreibungen eines syndromalen Komplexes, welcher der Definition einer artifiziellen Erkrankung ähneln stammen aus dem 2. Jahrhundert vor Christus (Erstbeschreiber ist der griechische Arzt Galen)

Der Begriff „Münchhausen-Syndrom“ wurde das erste Mal 1951 als Synonym für die artifizielle Störung benutzt und geht zurück auf den im Volksmund als „Lügenbaron“ betitelten Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen. Den Namen „Munchhausen syndrome“ wählte der englische Mediziner Sir Richard Asher als Subtyp artifizieller Störungen für die Gruppe an Patient*innen, welche sich immer wieder in Krankenhäusern vorstellen, welche ggf. auch weit auseinander liegen und dabei fiktive Erkrankungsbilder bzw. Symptome präsentierten, um stationär behandelt zu werden und sich schmerzvollen und gefährlichen Untersuchungen, Operationen und Behandlungen zu unterziehen. Seitdem kam es aber zu einer eher inflationären Nutzung für alle Krankheitsuntergruppen der artifiziellen Störungen.

„Man braucht nur ein wenig Phantasie, und alle Schlösser öffnen sich.“

Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen

Was einführend noch zu betonen ist: Man kann die betroffenen Patient*innen ggf. als „Meister*innen der Täuschung“ benennen, sollte aber dabei nicht vergessen, dass betroffene Personen keine Betrüger*innen sind, sondern psychisch krank.

Epidemiologie

Eine epidemiologische Einordnung ist sehr schwer, da es kaum wirklich belastbare Zahlen gibt. Aus dem Fachgebiet der Dermatologie gibt es Schätzungen zur Einjahresprävalenz, welche von 0,5 – 2 % spricht, die innerhalb eines Jahres erkranken (Zahlen beziehen sich primär auf Patient*innen mit somatischen Erkrankungen).

Bezugnehmend auf die Untergruppe der eigenbezogenen artifiziellen Erkrankung lässt sich sagen, dass um die 80 % der betroffenen Personen weibliche Patientinnen sind. Ein Drittel von ihnen sind in medizinischen Berufen tätig. Der größte Teil der Patient*innen sind allein oder getrennt lebend.

Aus norwegischen Untersuchungen geht hervor, dass es aber oft zur falschen und gleichzeitig auch viel zu selten zur Diagnosestellung kommt.

Bezüglich der medizinischen Fachgebiete, in welchen die Patient*innen vorstellig werden, gibt es wenige (systematische) Untersuchungen, aber die nachfolgenden Zahlen gelten als zum größten Teil belastbar:

  • Psychiatrie (19 %)
  • Notaufnahme (12 %)
  • Neurologie/Neurochirurgie (10 %)
  • Infektiologie (9 %)
  • Dermatologie (9 %)
  • Endokrinologie (13 %)
  • Kardiologie (10 %)
  • Dermatologie (10 %)

Unterteilung

Bei den artifiziellen Störungen gibt es zusätzlich zur Abgrenzung der Eigen- und Fremdbezogenheit (fremdbezogene artifizielle Störung = Münchhausen-by-proxy; siehe „Was ist… eine fremdbezogene artifizielle Störung?“) eine Unterscheidung in eine artifizielle Störung im engeren Sinne sowie das o.g. Münchhausen-Syndrom.

artifizielle Störung (im engeren Sinne; Untergruppe)

  • überwiegend weibliche Betroffene (Verhältnis von 4:1 bis 5:1), die allein leben
  • ca. 50 % sind Angehörige medizinischer (Assistenz)berufe
  • hohe Komorbidität mit Abhängigkeitserkrankungen, Ess- und/oder Borderline-)Persönlichkeitsstörungen
  • Patient*innen sind/wirken sozial angepasster, normales Bildungsniveau
  • meist gesellschaftlich und beruflich zum großen Teil integriert
  • Ausprägung der Eigenmanipulation eher in einem Maße, welches dem eigenen Umfeld nur selten zu denken gibt
  • kein ausgeprägtes Krankenhauswandern

Münchhausen-Syndrom

  • sehr kleine Patient*innen-Kollektiv
  • überwiegend männliche Betroffene (Verhältnis von 4:1 bis 6:1)
  • sozial stark desintegriert bzw. schwere Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen (Beziehungsabbrüche etc.)
  • meist aus schwierigen Verhältnissen stammend (Sucht der Eltern, Kindesmisshandlung, Gewalterleben)
  • meist stark ausgeprägte Pseudologia phantastica (Erzählen phantastischer Geschichten über das eigene Leben)
  • niedriges Bildungsniveau
  • stark ausgeprägtes Krankenhauswandern
  • stark ausgeprägte Selbstmanipulationen
  • hohe Komorbiditätsraten mit antisozialen Persönlichkeitsstörung (narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Borderline-Muster)

Ursachen & Psychopathologie

Zur Psychopathogenese gibt einige Ansätze/Vermutung, aber eine abschließend ursächliche Begründung gibt es bis heute nicht. Nachfolgend einige Erklärungsansätze/-vermutungen, welche aber immer in einem multifaktoriellen System gesehen werden müssen.

Psychopathologische Ausbildung der artifiziellen Störung dient vor allem der Affektregulierung und des Kontrollgewinns in unbeherrschbaren Situationen, um innere Anspannung und Depersonalisationszustände zu beenden/durchbrechen. Dies liegt vor allem an meist bestehenden neuropsychologisch Defiziten in der konzeptuellen Organisation, Verarbeitung und Beurteilung komplexerer Informationen, meist gepaart mit einem sehr niedrigen Selbstbild. Vor allem bedingt durch das niedrige Selbstbild/-wertgefühl bestehen extreme Schuldgefühle, welche zur Überzeugung führen, für etwas bestraft werden zu müssen.

Oftmals haben betroffene Personen in Kindheit und Jugend traumatischer Erlebnisse wie Gewalt, Missbrauch & Vernachlässigung im Kontext einer feindseligen und unzuverlässigen Familienatmosphäre erlebt. Auch Trennungs- und Verlusterlebnisse und/oder Heimunterbringung in der Kindheit spielen eine Rolle beim Entstehen artifizieller Störungen. Zusätzlich kann das prägende eigene Erleben einer Vielzahl von medizinischen Untersuchungen/Behandlungen oder bei Familienmitgliedern oder Freunden ursächlich für eine akzidentielle Störung sein.

Die entstehenden Krankheitsmuster dienen in vielen Fällen auch der Stabilisierung von Beziehungen, die eher von Konflikten geprägt sind. Die Suche nach Umsorgung und Heilung durch die eine Manipulation zur Erzeugung von Krankheitsbildern entsteht hierbei als Reaktion auf Verlust, um schlussendlich die Kontrolle über die Gefühle des Verlassenseins wiederzuerlangen und durch die entstandene krankheitsbedingte Hilflosigkeit den/die Beziehungspartner*in an sich zu binden. Auch im gegensätzlichen Kontext kann es zur Ausbildung einer artifiziellen Störung kommen, wenn die betroffenen Patient*innen versuchen, sich über die eigen Manipulation mit engen, ernsthaft erkrankten Freunden oder Verwandten zu identifizieren.

Die schlussendliche massive Störung des Körperselbst, der Selbstwertregulierung und der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit führen psychopathologisch oftmals in ein viergliedrigen Konzept (Plassmann 1993):

  • Tote Zonen im Körperselbst (zugefügte Verletzungen symbolisieren Nebeneinanders von toten und lebenden Geweben im Körper, welche nich abheilen dürfen)
  • Fusionäre Zonen im Körperselbst (bestimmte Körperregionen wie Augen oder Körperöffnungen repräsentieren Zonen latenter körperlicher Entgrenzung, welche durch Manipulation dieser ungeschützten Körperstellen abgedichtet/versperrt werden müssen)
  • Spaltzonen im Körperselbst (paarig angelegte Körperteile/Organe werden zur unbewussten Konkretisierung von „guten“ und von „bösen Körperteilen“ und müssen autodestruktiv zerstört werden)
  • Entwertungszonen im Körperselbst (v.a. Zonen wie Gesicht und Beine, welche narzisstisch hoch besetzt sind, werden durch Bagatellunfälle wie ein leicht verletztes Knie zur Repräsentanz negativer Selbstanteile, die mit krasser Destruktivität bekämpft werden müssen)

Psychopathologisch entsteht schlussendlich ein Konzept aus symbolisiertem Hass gegen den eigenen Körper, sich entwickelnden Motiven des Täuschens und Lügens. Ein ggf. bestehender Katalysator kann ein zusätzlich komorbides Borderline-Muster sein.

Symptomatik bzw. diagnostische Kriterien

artifizielle Störung (im engeren Sinne; Untergruppe)

Zentrales Symptom aller artifiziellen Störungen ist das Vortäuschen und Aggravieren sowie die Manipulation zum Zwecke des Hervorrufens körperlicher und/oder psychischer Symptome, wobei die Qualität und Quantität der Ausprägung sehr unterschiedlich ist. Der Ausprägungsgrad lässt rückschließen auf die zugrundeliegende Psychopathologie. Im Gegensatz zum Münchhausen-Syndrom ist aber selten zusätzlich eine etwaig ausgeprägte Pseudologia phantastica feststellbar. I.d.R. treten die erste Anzeichen im oder kurz nach der Pubertät auf.

Das o.g. Krankenhauswandern, als Suchtverhalten nach immer neuen Krankenhausaufnahmen, besteht i.d.R. mit einer vor Entlassung oder Therapiebeendigung aufkommenden Symptomverstärkung. Je nach Ausprägungsgrad besteht eine auffällig hohe Bereitschaft bzgl. der Durchführung invasiven diagnostischen und therapeutischen, auch operativen, Eingriffen. Bzgl. Krankheits-/Heilungsverlauf und Diagnostikergebnissen besteht oftmals eine starke Gleichgültigkeit, vor allem in Verbindung mit der Schwere der vorliegenden Symptome/Krankheitsbilder. Darüber hinaus werden von den betroffenen Personen selbst fälschliche Angaben bzgl. der Anamnese abgegeben, um damit die eigene Glaubwürdigkeit zu verstärken. Zu Selbstentlassungen kommt es bei Münchhausen-Patient*innen im engeren Sinne fast nur nach direkter Konfrontation mit der Diagnose „artifizielle Störung“ bzw. Symptomen von selbiger. Dadurch kann es ggf. im Verlauf zum Ausweichen/Wechsel in andere Krankenhäuser kommen.

Durch selbst zugefügte Verletzungen kommt es zu rezidivierenden Wundheilungsstörungen, welche nicht durch andere organische Ursachen zu begründen sind.

Durch das präsentierte Verhalten, mit der immer wieder neuen Präsentation von Symptomen und dem nicht stillbaren Wunsch nach weiteren Untersuchungen und Eingriffen, kommt es nicht selten zu einer pathologischen/konflikthaften Behandler*innen-Patient*innen-Beziehung, da die Behandler*innen sich ihrem Beruf und dem damit verbundenen Anliegen Betroffenen zu helfen vor allem mit dem Helfen und Heilen als Berufsethos identifizieren, v.a. aufgrund eines ggf. übermäßig dramatischen Verhaltens der Patient*innen.

Da eine nicht geringe Zahl der Patient*innen selbst im Gesundheitswesen tätig ist, kommt es dadurch auch zu einem sehr überzeugenden Auftreten der Patient*innen, v.a. mit klarem Lehrbuchwissen über die vermeintlichen Erkrankungen, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Insgesamt sind, wie oben erwähnt, Patient*innen mit einer artifiziellen Störung im engeren Sinne oft sozial angepasster als Patient*innen mit dem Münchhausen-Syndrom, sodass es nicht komplett ausgeschlossen ist, dass die betroffenen Personen auch nach längerem Krankheitsverlauf noch in funktionierenden familiären/sozialen Beziehungen befindlich sind.

Typischere Komorbiditäten sind

  • depressive Syndrome
  • Essstörungen
  • Borderline-Muster
  • narzisstische Persönlichkeitsstörungen
  • histrionische Persönlichkeitsstörungen

Trotz des häufigen Erfahrens von Schmerz, nicht nur während der Krankheitsphase im Rahmen der artifiziellen Störung, sondern auch schon in der Kindheit und Jugend, reagieren viele Betroffene eher mit wenig Empathie und auffällig mitleidslos, ggf. auch bei den eigenen Kindern. Die Gründe hierfür sind nicht abschließend geklärt, aber es wird vermutet, dass es mit dem eigenen Empfinden hinsichtlich ausbleibenden/unzureichendem Mitleid für die eigene Situation und die eigenen Erkrankungen.

Abschließend nochmals die diagnostischen Grundkriterien für die artifizielle Störung im engeren Sinne:

  • wiederholte Fälschung körperlicher oder psychologischer Symptome und Beschwerden oder eine Selbstverletzung oder Induktion einer Krankheit sowie „Lüge“/Fälschung der eigenen Biographie
  • Hauptmotivation: Übernahme der Krankenrolle (Selbstdarstellung als krank, behindert oder verletzt)
  • als Abgrenzung ggü. Simulation (siehe Differentialdiagnosen) Täuschungsverhalten auch bei fehlenden offenkundigen externen Vorteilen

zusätzliche Kriterien beim Münchhausen-Syndrom

Wie schon erwähnt handelt es sich bei Patient*innen mit dem Münchhausen-Syndrom um ein eher bei Männern ausgeprägtes Krankheitsbild, welches ebenfalls auf den zuvor beschriebenen Symptomen der artifiziellen Störung beruht, jedoch in einigen Punkten abweicht bzw. stärker ausgeprägt ist.

Eines der zusätzlichen Hauptsymptome ist die sogenannte Pseudologia phantastica, die auch so ausgeprägt sein kann, dass man nicht nur die Umgebung belügt, sondern auch sich selbst. In stärksten Ausprägungen kann sich die Pseudologia phantastica sogar bis zur Annahme falscher Identitäten entwickeln, mit der versucht wird, die eigene Unsicherheit und erlebte Minderwertigkeit zu verdecken. Abzugrenzen ist die Pseudologia phantastica von wahnhaften Gedanken dadurch, dass die Patient*innen die eigenen Überzeugungen bei Konfrontation mit der Realität revidieren können.

Viele Patient*innen stammen aus massiv gestörten familiären Zuständen geprägt von Gewalt, sozialen Problemen und Suchtproblemen (Alkohol, Drogen, Medikamente). Vor allem der letzte Punkt liegt meist selbst auch bei den betroffenen Personen vor. Das Verhalten der Betroffenen ist geprägt von delinquentem Verhalten und Antisozialität. Bedingt durch die asozialen Charakterzüge bestehen oftmals starke soziale Bindungsprobleme von wiederholten Beziehungsabbrüchen bis hin zur völligen sozialen Entwurzelung.

Im Zuge des gezwungenen Krankenhauswanderns, meist nach Selbstentlassungen gegen ärztlichen Rat, entwickelt sich sukzessive Tendenz zu regelmäßigen/ständigen Reisens, was vor allem auch die (psychotherapeutische) Behandlung bei identifizierter artifizieller Störung erschwert, ggf. sogar unmöglich macht. Zusätzlich sind psychotherapeutische Ansätze auch dadurch erschwert, dass nur ein sehr geringer Leidensdruck der Betroffenen besteht, da die gesamte Krankheitsgeschichte und alle Denkweisen der Pseudologia phantastica komplett internalisiert sind.

Relevante Komorbiditäten sind schwer narzisstische oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen, ggf. in Verbindung mit dem Borderline-Muster. Wichtig ist im Rahmen der Komorbiditäten und Differentialdiagnosen voreilig Gefahr zu laufen das Gesamtbild der Symptomatik mit Psychosen zu verwechseln.

Formen der Selbstmanipulation

Die Formen der Manipulation des eigenen Körpers sind so breitgefächert wie die Fachgebiete der Medizin und reichen von selbst induzierte Komplikationen bis zur regelrechten Verstümmelungen

Es gibt sieben Subtypen bzw. Strategien des selbstschädigenden Verhaltens, welche auch kombiniert auftreten können:

  • Erfinden und/oder Inszenieren von körperlichen und/oder psychischen Symptomen
  • Fälschen von Krankenakten bzw. Befunden oder Manipulation an medizinischen Geräten
  • Manipulation von Körpersekreten
  • Einwilligung zu Eingriffen bei gleichzeitigem Verschweigen bekannter Kontraindikationen
  • Einnahme von Medikamente oder Drogen zur Induktion/Verschlimmerung von Symptomen
  • direkte nicht-chirurgische Manipulation am eigenen Körper
  • direkte chirurgische Manipulation am eigenen Körper (z.B. artifizielle Wundheilungsstörungen)

Typische selbst induzierte Krankheitssymptome bzw. Manipulationsarten der am häufigsten frequentierten medizinischen Fachgebiete sind:

  • artifizielle Hauterkrankungen
    • Aufbringen von Säuren, Laugen oder anderen Substanzen
    • mechanische Einwirkungen auf die eigene Haut (z.B. Quetschen der Haut)
    • Strangulation von Extremitäten mit dem Ziel der Ausbildung (artifizieller) Lymphödeme
    • subkutanes Einspritzen von infizierten Lösungen, Speichel, Milch, Kot o.Ä.
  • artifizielle pyrogene Erkrankungen
    • Fieber durch Einnahme körpertemperatursteigernder Substanzen
    • Thermometermanipulationen
  • artifizielle hämatologische Erkrankungen
    • Selbstabnahme von Blut mit dem Ziel der Erzeugung von Anämien
    • selbst herbeigeführtes Bluten
    • Einnahme von Antikoagulanzien
    • Vortäuschen von HIV-Infektionen
  • artifizielle Stoffwechselerkrankungen
    • Hyperthyreose durch Einnahme von Schilddrüsenhormonen
    • Hyperglykämien durch Injektion von Insulin oder Einnahme oraler Antidiabetika
    • Hypokaliämien durch Einnahme von Diuretika
    • Laxanzienabusus
    • Hyperkalziämie durch Einnahme von Kalzium oder Vitamin D
    • Cushing-Syndrom durch Einnahme von Prednison
    • Hyperamylasurie durch Speichelzusatz zum Urin
    • Anticholinergikaintoxikation durch Einnahme von Sympathomimetika
  • artifizielle kardiologische Symptome
    • Vortäuschung einer KHK oder ACS
    • Einnahme kardial-wirksamer Medikamente
  • artifizielle pulmonologische Symptome
    • Hämoptysis durch vorher geschlucktes Eigen- oder Tierblut
  • artifizielle gynäkologische Symptome
    • Vortäuschung von abdominalen Schmerzen und/oder Abwehrspannung
    • vaginale Blutungen durch mechanische Manipulationen an Portio oder Vagina oder Einführen von Blut
    • intravaginales Einbringen von ätzenden Lösungen
  • artifizielle chirurgische Symptome
    • Manipulationen an Operationswunden
    • Erzeugen von Abszessen durch Einspritzen von Kot, Fremdkörpermaterial etc.
    • Manipulationen an zentralvenösen Zugängen, Wunddrainagen etc.
  • artifizielle urologische Symptome
    • Einbringen von Eigen- oder Tierblut durch die Harnröhre oder durch Injektion durch die Bauchdecke in die Blase mit dem Ziel der Erzeugung einer Hämaturie
    • Kontamination des Urins durch Fäkalien, Blut etc.
  • artifizielle neurologische Symptome
    • Vortäuschen von Lähmungszuständen etc.
    • Einnahme von Anticholinergika
    • Vortäuschung epileptischer Anfälle, ggf. auch durch Einnahme von Medikamenten
  • artifizielle psychiatrische Symptome
    • Vortäuschung von akuter Suizidalität
    • Vortäuschung psychotischer Zustände, Delirien oder Verwirrtheitszuständen, ggf. auch durch Einnahme von Medikamenten

Schweregrade

leichtmittelgradigschwer
Ausmaß und Dauer der selbstinduzierten Symptomatikoft ausschließlich vorgetäuschtdeutliche, progrediente Selbstschädigunglebensbedrohliche und verstümmelnde Ausprägung
bleibende Behinderungen
Ausmaß und Persistenz
der Täuschung
selten ernste selbstinduzierte Symptomerezidivierend bis anhaltendchronischer Verlauf
Art, Ausmaß und Dauer der medizinischen Inanspruchnahmemeist passager,
oft einmalig
wiederholte medizinische Inanspruchnahmeexzessive medizinische Inanspruchnahme
Ausmaß der Sozialpathologie, Schwere der Persönlichkeitsstörung, psychische Komorbiditätmeist akute Konflikte oder Krisen
– Motivierbarkeit für therapeutische Angebote
ausgeprägte Täuschung & Dissoziation
– Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung
psychiatrische Komorbidität, Persönlichkeitsstörung
– Anzeichen einer sozialen Entwurzelung

Komorbiditäten

Neben den zuvor schon erwähnten Essstörung sowie narzisstischen/histrionischen/dissozialen Persönlichkeitsstörung gibt es einige weitere ggf. relevante Komorbiditäten wie das Borderline-Muster oder Substanz-Abhängigkeitsstörungen. Ca. (40 %) – 58 – 70 % der Patient*innen haben psychische Komorbiditäten.

Weitere bekannte Komorbiditäten sind…

  • … eine gestörte Sexualität (Spektrum von explizit benannten sexuellen Dysfunktionen bis Perversionen).
  • hohe Suizidalitätsraten.
  • somatoforme/dissoziative Störungen.

Differentialdiagnosen

Simulation

Bei der Simulation handelt es sich um das bewusste, zweckgerichtete, absichtliche Vortäuschen oder übertriebenes Darstellen krankhafter Störungen, mit dem Ziel sich Vorteile wie eine (längere) Krankmeldung oder Berentung zu verschaffen. Häufig ist auch ein sekundärer Krankheitsgewinn gewollt, also das Erhalten von Aufmerksamkeit und Mitgefühl.

Im Rahmen einer ausführlichen und sorgfältigen Anamnese ist es in der Regel möglich, eine ausschließlich absichtliche Simulation mit sekundären Vorteilen wie ein Rentenbegehren gut auszuschließen. Dadurch besteht auch kein Leidensdruck und das subjektive Erleben entspricht nicht den geklagten Symptomen, die außerhalb von Untersuchungssituationen oftmals nicht mehr vorhanden sind.

Es gilt zu betonen, dass auch artifizielle Patient*innen ein Simulationsverhalten aufweisen können. Jedoch zielt die Simulation im Regelfall auf eine Art Selbstschutz ab, sodass autoagressives Verhalten bzw. das Erzeugen von Symptomen eher ein hintergründiges Phänomen ist.

autoaggressives Verhalten (Selbstverletzung)

Autoaggression bzw. nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E ICD-11), z.B. im Rahmen des Borderline-Musters, zur Spannungsregulation oder bei Impulskontrollstörungen entsteht, ohne die Absicht eine Erkrankung vorzutäuschen und dabei ggf. Aufmerksamkeit zu erhalten.

Absichtliche Selbstverletzung des Körpers, meist durch Schneiden, Kratzen, Brennen, Beißen oder Schlagen, in der Erwartung, dass die Verletzung nur zu einem geringen körperlichen Schaden führt.

Nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E ICD-11)

Abzugrenzen von einer nichtsuizidalen Selbstverletzung sind vor allem…

  • suizidale Handlungen (MB23.S ICD-11 – Suizidales Verhalten und/oder MB23.R ICD-11 – Suizidversuch)
  • Selbstbeschädigung bei schizophrenen und persönlichkeitsgestörten Patient*innen
    • oft im Rahmen psychotischer Phasen oder bei der Stimulation als tot oder kaum mehr spürbar erlebter Körperzonen
  • Verletzungen infolge ungezielt-stereotyper Bewegungen bei geistig behinderten Menschen
  • Selbstverletzungen bei Patient*innen mit (Temporallappen-)Epilepsien

funktionelle, dissoziative, somatoforme Störungen

Patient*innen haben tatsächlich erlebte/erlebbare Symptome und dadurch resultierende Beunruhigung bei nicht hin-/ausreichend obiektivierbaren Beschwerden, welche auch außerhalb von Untersuchungssituationen vorhanden sind. Die Beschwerden beeinträchtigen alle wesentlichen Lebensbereiche der betroffenen Personen, ggf. sogar in hohem Maße.

Bei ausgeprägter Fokussierung in Bezug auf die wahrgenommenen medizinischen Sorgen kann es nachfolgend auch zu einer somatischen Belastungsstörung kommen.

Bei dissoziativen bzw. einer Konversionsstörung sind die Symptome meist eher untypisch für die entsprechende somatische Erkrankung, aber werden nicht bewusst vorgetäuscht.

dissoziale Persönlichkeitsstörung

Verlogenheit, Mangel an Reue oder die Missachtung der eigenen Sicherheit in rücksichtsloser Art und Weise sowie regelmäßiges Versagen in Bezug auf konstantes Arbeitsverhalten sind Symptome, die neben einer artifiziellen Störungen auch mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung vergesellschaftet sein können. Auch das Fehlen eines Verhaltens entsprechend sozialer Normen ist Bestandteil beider Krankheitsbilder.

Red Flags bzw. Indikatoren

Zu den wichtigen Indikatoren, die auf eine akzidentielle Störung hindeuten, gehören unkontrollierbare, dramatisch geschilderte Krankheitssymptome, welche kontinuierliche eskalieren und mit stetigen Rückfällen, mit neuen/anderen ungewöhnlichen Symptomen nach kurzzeitiger Besserung, einhergehen. Die präsentierten Beschwerden stehen dabei in keinem Verhältnis zu objektivierbaren Befunden. Weitere Red Flags sind:

  • klar selbstinduzierte/selbstmanipulierte Befunde bzw. Befundverschlechterung
  • Vielzahl frustraner bzw. widersprüchlicher diagnostischer Tests und Behandlungsversuche mit einer untypischen Bereitschaft bzgl. Tests/Maßnahmen/Eingriffen
  • Vorstellung in zahlreichen medizinischen Einrichtungen (meist aber keine Vorstellung bzw. Weigerung zur Vorstellung in psychiatrischer Fachabteilung)
  • Abgabe selektiver, oftmals irreführender Informationen durch die Patient*innen, nicht selten verbunden mit der Weigerung fremdanamnestische Angaben einzuholen zu dürfen
  • Augenzeugen, die Befundmanipulation beobachten
  • lehrbuchartige Kenntnis über gezeigte Krankheitsbilder und medizinische Terminologie (meist auch Beschäftigungsverhältnis im medizinischen Bereich)
  • nur wenige Besuche bei KH-Aufenthalten bei gleichzeitig geschildertem wichtigen Job bzw. großen Bekanntenkreis
  • Symptome/Verhalten tritt nur dann auf, wenn Patient*innen unter Beobachtung stehen

Therapie

Die wichtigste Regel in Bezug auf die (akute) Behandlung artifizieller Erkrankungen ist, dass es sich auch immer wieder um „reale“ Erkrankungen handeln kann und daher jede Vorstellung ernst zu nehmen ist. Oftmals kommt es zur Verärgerung der Behandler*innen, wenn sich der Verdacht erhärtet bzw. feststeht, dass die Patient*innen Krankheiten und Behinderungen nur vortäuscht oder selbst erzeugt haben. Die dadurch entstehenden Spannungen und Differenzen können dafür sorgen, dass die Patient*innen-Behandler*innen-Bindung in erheblichem Maße gestört ist und nicht mehr im Sinne der Betroffenen agiert wird. Des Weiteren sind Selbstzweifel bei den Behandler*innen nicht untypisch, da man sich trotz der eigenen Expertise hat täuschen lassen. Bei all diesen Faktoren, die die Behandlung oft komplex und lange Zeit enttäuschend gestaltet, darf man aber wie gesagt nicht vergessen, dass betroffene Menschen krank sind und Hilfe brauchen, wenn auch nicht mit den primären Mitteln, die zur Behandlung der Vorstellungsursache vorgesehen sind.

Betroffene versuchen häufig dazu, die Behandler*innen in ein starkes, komplexes Beziehungsgeflecht hineinzuziehen, was auch schon beim Erstkontakt zu beachten ist, vor allem weil bei der ggf. vorhandenen Dramatik der somatischen Symptome psychische Auffälligkeiten nicht gesehen/erkannt werden. Zusätzlich wirken sie oft wie die „idealen“ Patient*innen, weil sie eine große Bereitschaft haben, auch größere und invasive Eingriffe/Untersuchungen über sich ergehen zu lassen.

Die zwei primären Ansätze in Bezug auf die Behandlung von artifiziell betroffenen Patient*innen sind…

  • … die (unmittelbare) Konfrontation, welche meist zum starken Leugnen oder zum Ablehnen einer weiteren Diagnostik und Therapie führt. Ein ggf. nicht strafender oder vorwurfsfreier Versuch der Thematisierung mit der Verdachtsdiagnose „artifzielle Erkrankung“ kann in Einzelfällen ggf. auch ein initialer Motivationsschub für das Annehmen des Angebotes einer psychotherapeutischen Behandlung sein. Zu beachten ist, dass gerade ein eher konfrontatives Vorgehen kann zu ggf. feindseligem und agitiertem Verhalten führen kann.
  • … die nicht-konfrontative Technik kann in Fällen leichterer Ausprägung von Vorteil sein, da die Patient*innen nicht schon initial abgestempelt werden und so nicht direkt bloßgestellt und „überführt“ werden. Eine Ausnahme stellt die Vorstellung in einem vital bedrohlichen Zustand dar; hier gilt der Grundsatz „Primum nil nocere!“ (Zuerst einmal nicht schaden; elementarer Grundsatz des Hippokratischen Eides)

Eine gute Grundlage für die Diagnostik und Behandlung artifiziell erkrankter Personen bietet die semistrukturierte Basis-Dokumentation nach Willenberg et Al. aus dem Jahr 1997 (siehe Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 452-9):

  • Schritt 1 – Befund
    • Beschreibung von Art, Lokalisation und Verlauf der klinischen Auffälligkeit
    • Beobachtung des Patienten-, aber auch des Teamverhaltens
    • Dokumentation medizinischer und soziodemografischer Daten: körperliche und psychische Grunderkrankungen bzw. Komorbiditäten, Vorbefunde, Vorerkrankungsregister, Art und Zeitpunkt möglicher früherer Selbstschädigungen medizinische Inanspruchnahme in den letzten 10 Jahren, sozialer Kontext
    • erweiterte Diagnostik (Keimspektrum, Drogen-/Medikamentenspiegel, EEG, radiologische Untersuchungen etc.)
  • Schritt 2 – Bedeutung
    • vorläufige Einordnung der Selbstschädigungen (inkl. Suizidversuchen) als „offen“ oder „heimlich*, „einmalig“ oder mehrmalig, „Verdacht oder „gesichert“
    • Einschätzung der akuten Gefahr und möglicher bleibender Schäden von keine/gering* über mäßig“ bis zu „Invalidisierungsgefahr*.Lebensgefahr“ oder Reanimationspflicht*
    • Einschätzung möglicher dysfunktionaler Motive, Verhaltensweisen und Kontextfaktoren
    • Einschätzung möglicher alternativer funktionaler Ziele und Ressourcen des Patienten
  • Schritt 3 – Behandlung
    • Diskussion im Team über Verdachtsdiagnose und weiteres Vorgehen
    • Dokumentation des Procederes
    • weitere Beobachtung und Diagnostik
    • Zurückhaltung bzgl. invasiver Maßnahmen
    • Information bzw. Konfrontation
    • Unterstützungsangebote

Abschließend lässt sich der Umgang mit vorgetäuschten Erkrankungen mit drei Punkten zusammenfassen:

  1. Wachsamkeit (nur Detektiv und nicht Polizist sein, also nicht verhahnden/festsetzen)
  2. empathisches Auftreten (Patient*in ernst nehmen/verstehen und nicht bloßstellen)
  3. Auswege aufzeigen (Unterstützen statt Fallenlassen und Gefühl der Sicherheit vermitteln)

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

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