veröffentlichende Fachgesellschaft: European Society of Cardiology
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 25.08.2023
Ablaufdatum: 25.08.2028
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehad191
Grundsätzliches
- Unterscheidung in
- mit oder ohne Veränderungen im 12-Kanal-EKG
- mit oder ohne akute Erhöhung der kardialen Troponinkonzentration (cTn)
- akuter Myokardinfarkt (AMI) oder instabile Angina pectoris (UA = unstable angina)
- instabile Angina pectoris = Myokardischämie in Ruhe oder bei minimaler Anstrengung ohne akute Verletzung/Nekrose der Kardiomyozyten, die gekennzeichnet ist durch
- anhaltende (> 20 min) Angina pectoris in Ruhe
- neu auftretende schwere Angina pectoris
- Angina pectoris mit zunehmender Häufigkeit oder längerer Dauer
- Angina pectoris, die nach einem kürzlich aufgetretenen MI
- akuter Myokardinfarkt = Kardiomyozytennekrose bei akuter Myokardischämie
- Myokardinfarkt aufgrund von atherothrombotischer Ereignisse (Typ 1 MI)
- Myokardinfarkt aufgrund von anderen möglichen Ursachen für Myokardischämie und Myozytennekrose (Typ 2-5 MI)
- Ursachen für Myokardschäden können z.B. Myokarditis, Sepsis, Takotsubo-Kardiomyopathie, Herzklappenerkrankungen, Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz sein
Diagnostik
- Aufzeichnung und Interpretation von 12-Kanal-EKGs so schnell wie möglich, bestenfalls innerhalb von <10 Minuten anstreben
- bei V.a. inferioren STEMI EKG der rechts präkordialen Ableitungen (V3R & V4R) schreiben
- bei V.a. posterioren STEMI EKG der posterioren Ableitungen (V7 – V9) schreiben
- Unterscheidung in
- akuter Brustschmerz mit anhaltenden ST-Strecken-Hebungen (oder Äquivalenten) im EKG (STEMI) sowie i.d.R. Myokardnekrose und Troponinanstieg; ST-Strecken-Hebung wird gemessen am J-Punkt und ist wie folgt definiert
- ≥ 2,5 mm bei Männern < 40 Jahre, ≥ 2 mm bei Männern ≥ 40 Jahre oder ≥ 1,5 mm bei Frauen unabhängig vom Alter in den Ableitungen V2 – V3
- ≥ 1 mm in den anderen Ableitungen (bei Fehlen einer linksventrikulären Hypertrophie oder eines Linksschenkelblocks)
- akuter Brustschmerz ohne anhaltende ST-Strecken-Hebungen (oder Äquivalente) im EKG (NSTEMI/[NSTE]-ACS), aber mit anderen EKG-Veränderungen wie vorübergehende ST-Strecken-Hebung, anhaltende/vorübergehende ST-Streckensenkung und T-Wellen-Anomalien, wie hyperakute T-Wellen, T-Wellen-Inversion, biphasische T-Wellen, flache T-Wellen und Pseudo-Normalisierung von T-Wellen (CAVE: auch normales EKG möglich) sowie i.d.R. typischer Anstieg & Abfall der kardialen Troponinwerte
- akuter Brustschmerz mit anhaltenden ST-Strecken-Hebungen (oder Äquivalenten) im EKG (STEMI) sowie i.d.R. Myokardnekrose und Troponinanstieg; ST-Strecken-Hebung wird gemessen am J-Punkt und ist wie folgt definiert
- Hinweise im EKG
- ST-Senkungen in den Ableitungen V1 – V3 (v.a. terminale T-Welle positiv) und/oder ST-Hebungen in V7 – V9 = Hinweis für Verschluss der hinteren Koronararterie
- ST-Hebungen in V3R und V4R = Hinweis auf anhaltende Ischämie des rechten Ventrikels
- ST-Senkungen ≥ 1 mm in ≥ 6 Ableitungen (inferolaterale ST-Senkungen) + ST-Hebung in aVR und/oder V1 = Hinweis auf Ischämie mehrerer Gefäße oder Obstruktion der linken Hauptkoronararterie
- nach Stellen der Verdachtsdiagnose eines ACS (STEMI, andere EKG-Veränderungen oder anhaltende Brustschmerzen) kontinuierliche EKG-Überwachung und Reanimationsbereitschaft
- bei wiederkehrenden Symptomen oder diagnostischen Unsicherheiten Reihen-EKGs empfohlen
- Messung des kardialen Troponins innerhalb von 60 Minuten nach Blutentnahme sowie seriell nach einer/zwei Stunde/n; ggf. zusätzliche Messung nach 3 h, wenn die ersten beiden Messungen nicht aussagekräftig genug sind
- Verwendung etablierter Risikoscores (z.B. GRACE-Score) in Betracht ziehen
Therapie
- O2- Gabe bei Hypoxämie, also SaO2 < 90 % (CAVE: bei SaO2 > 90 % keine routinemäßige O2- Gabe
- Opioide i.v. zur Analgesie in Betracht ziehen
- bei sehr ängstlichen Patient*innen leichtes Beruhigungsmittel in Betracht ziehen
- nach (Verdachts-)Diagnosestellung sofortiger Transport in geeignete Klinik mit 24/7-Möglichkeit der perkutanen Koronarintervention (Herzkatheter-Labor)
(primäre) perkutane Koronarintervention (PPCI/PCI)
- Gabe von Betablocker i.v. (vorzugsweise Metoprolol) bei Patient*innen, die sich primärer perkutaner Koronarintervention (PPCI) unterziehen, in Betracht ziehen (CAVE: nur, wenn keine Anzeichen einer akuten Herzinsuffizienz vorliegen, der RRsys > 120 mmHg liegt und keine anderen Kontraindikationen vorliegen)
- Reperfusionstherapie ist bei allen Patient*innen mit Arbeitsdiagnose STEMI < 12 h empfohlen
- PPCI der Fibrinolyse vorziehen, wenn Zeit von Diagnose bis PCI < 120 min ist
- wenn PPCI nicht in < 120 min möglich, fibrinolytische Therapie innerhalb von 12 h nach Symptombeginn
- PCI nach Fibrinolyse empfohlen, wenn Fibrinolyse fehlgeschlagen ist (ST-Strecken-Auflösung < 50 % innerhalb von 60 – 90 min nach Fibrinolytika-Gabe) oder wenn hämodynamische oder elektrische Instabilität, Verschlechterung der Ischämie oder anhaltende Brustschmerzen vorliegen
- PPCI bei Symptombeginn >12 h empfohlen, wenn anhaltende Symptome vorliegen, die auf Ischämie, hämodynamische Instabilität oder lebensbedrohliche Arrhythmien hindeuten
- Notfallangiographie oder PCI empfohlen, wenn Herzinsuffizienz/Schock nach Fibrinolyse neu auftreten/anhalten
- sofortiges invasives Vorgehen bei NSTE-ACS-Patient*innen mit Hochrisikokriterien oder starkem Verdacht auf instabile Angina empfohlen
- hämodynamische Instabilität oder kardiogener Schock
- wiederkehrende oder refraktäre Brustschmerzen trotz medizinischer Behandlung
- lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen im KH
- mechanische Komplikationen eines Myokardinfarkts
- akute Herzinsuffizienz, die vermutlich auf anhaltende Myokardischämie zurückzuführen ist
- wiederkehrende dynamische ST-Strecken- oder T-Wellen-Veränderungen, v.a. intermittierende ST-Strecken-Hebungen
antithrombotische Therapie
- Aspirin-Loading-Dose entweder 150 – 300 mg oral oder 75 – 250 mg i.v. sowie 75 – 100 mg oral als Erhaltungsdosis
- zusätzlich zu Aspirin ein P2Y12-Rezeptor-Hemmer empfohlen: initiale orale Loading Dose, gefolgt von Erhaltungsdosis über 12 Monate
- bei Kombinationstherapie mit Dualer Thrombozytenaggregationshemmung Protonenpumpenhemmer bei Patient*innen mit hohem Risiko für gastrointestinale Blutungen empfohlen
- Prasugrel-Gabe bei Patient*innen, die sich PCI unterziehen, wenn P2Y12-Rezeptor-Hemmer nicht möglich (60 mg Loading Dose, 10 mg Erhaltungsdosis bzw. 5 mg für Patient*innen ≥ 75 Jahre oder Körpergewicht < 60 kg)
- Ticagrelor unabhängig von Behandlungsstrategie (invasiv/konservativ) empfohlen (180 mg Loading Dose, 90 mg Erhaltungsdosis)
- Clopidogrel-Gabe, wenn Prasugrel oder Ticagrelor nicht verfügbar oder kontraindiziert (300 – 600 mg Loading Dose, 75 mg Erhaltungsdosis)
- Vorbehandlung mit P2Y12-Rezeptor-Inhibitor vor PPCI erwägen
- Vorbehandlung mit P2Y12-Rezeptor-Inhibitor vor PPCI bei NSTE-ACS-Patienten in Betracht ziehen (keine routinemäßige Vorbehandlung empfohlen)
- Vorbehandlung mit GP-IIb/IIIa-Rezeptor-Antagonisten nicht empfohlen
thrombozytenaggregationshemmende Therapie
- parenterale Antikoagulation zum Zeitpunkt der Diagnose empfohlen
- routinemäßige UFH-Bolusgabe bei Patient*innen, die sich einer PCI unterziehen müssen (gewichtsangepasster Bolus von 70 – 100 IE/kg i.v. WÄHREND der PCI)
- Enoxaparin i.v. Zeitpunkt der PCI bei Patient*innen, die mit Enoxaparin s.c. vorbehandelt sind oder als Alternative zum UFH, in Betracht ziehen
- Fondaparinux nur bei Patient*innen mit NSTE-ACS, bei denen eine frühe invasive Angiographie (d.h. innerhalb von 24 h) nicht zu erwarten ist (alternativ Enoxaparin in Betracht ziehen)
Fibrinolyse
- wenn Fibrinolyse die gewählte Reperfusionsstrategie ist, ist empfohlen, diese so bald wie möglich nach Diagnosestellung auch schon präklinisch einzuleiten (angestrebtes Ziel: < 10 min bis zur Bolus-Gabe)
- fibrinspezifischer Wirkstoff, also Tenecteplase, Alteplase oder Reteplase, empfohlen
- bei Patient*innen > 75 Jahre nur die halbe Dosis Tenecteplase in Betracht ziehen
- thrombozytenaggregationshemmende Co-Therapie mit Aspirin und Clopidogrel empfohlen
- Antikoagulation nach Fibrinolyse bis zur Revaskularisierung (falls durchgeführt) oder für die Dauer des Krankenhausaufenthalts (bis zu 8 Tage) empfohlen; Enoxaparin i.v. gefolgt von s.c. als bevorzugtes Antikoagulans empfohlen (alternativ UFH als gewichtsangepasster i.v.-Bolus mit anschließender Infusion)
- bei Streptokinase-Behandlung Fondaparinux i.v.-Bolus, gefolgt von einer s.c.-Dosis 24 h später, in Betracht ziehen
(außerklinischer) Herzstillstand
- PPCI nach ROSC mit EKG mit anhaltender ST-Strecken-Hebung (oder Äquivalenten) empfohlen
- routinemäßige sofortige Angiographie nach ROSC bei hämodynamisch stabilen Patient*innen ohne persistierende ST-Strecken-Hebung (oder Äquivalente) nicht empfohlen
- Temperaturkontrolle, also kontinuierliche Überwachung der Körperkerntemperatur und aktive Fieberprophylaxe (> 37,7 °C), bei Erwachsenen mit ROSC und Bewusstlosigkeit prä-/innerklinisch empfohlen
- Verlegung aller Patient*innen mit ROSC und V.a. ACS in Klinik mit 24/7-PCI-Möglichkeit
- direkten Transport von Patient*innen mit OHCA in Cardiac Arrest Center erwägen
- neurologische Prognose/Beurteilung frühestens 72 h nach Einlieferung bei allen komatösen Patient*innen nach Herzstillstand empfohlen
kardiogener Schock
- sofortige Koronarangiographie und PCI der betroffenen Arterie (falls indiziert) bei Patient*innen mit kardiogener Schock als ACS-Komplikation empfohlen
- Notfall-Koronararterien-Bypass-Transplantation empfohlen, wenn PCI der betroffenen Arterie nicht durchführbar/erfolglos ist
- Fibrinolyse bei STEMI mit kardiogenem Schock in Betracht ziehen, wenn PPCI nicht innerhalb von 120 min nach Diagnose nicht möglich und mechanische Komplikationen ausgeschlossen wurden
- kurzfristige mechanische Kreislaufunterstützung bei ACS und schwerem/refraktärem kardiogenen Schock in Betracht ziehen
- routinemäßiger Einsatz einer intraaortaler Ballonpumpe bei ACS mit kardiogenem Schock und ohne mechanische Komplikationen nicht empfohlen
Vorhofflattern
- falls Frequenzkontrolle erforderlich Betablocker i.v. empfohlen, sofern kein akutes Herzversagen oder eine Hypotonie besteht
- falls Frequenzkontrolle erforderlich Amiodaron i.v. empfohlen, sofern kein akutes Herzversagen oder eine Hypotonie besteht
- sofortige elektrische Kardioversion bei ACS und hämodynamischer Instabilität empfohlen, wenn adäquate Frequenzkontrolle nicht sofort mit pharmakologischen Mitteln möglich
- Amiodaron i.v. empfohlen, um elektrische Kardioversion zu erleichtern und/oder das Risiko eines frühen Wiederauftretens von Vorhofflimmern nach der elektrischen Kardioversion bei instabilen Patienten mit kürzlich aufgetretenem Vorhofflimmern zu verringern
- langfristige orale Antikoagulation in Abhängigkeit vom CHA2DS2-VASc-Score und unter Berücksichtigung des HAS-BLED-Scores und der Notwendigkeit einer gleichzeitigen Thrombozytenaggregationshemmung bei Patient*innen mit dokumentiertem de novo Vorhofflimmern während der akuten Phase eines ACS erwägen
ventrikuläre Arrhythmien
- Betablocker und/oder Amiodaron i.v. bei polymorpher VT und/oder VF empfohlen
- rasche und vollständige Revaskularisierung zur Behandlung einer Myokardischämie, die bei Patienten mit rezidivierenden VT und/oder VF auftreten kann, empfohlen
- Lidocain zur Behandlung rezidivierender VT mit hämodynamischer Instabilität (trotz wiederholter elektrischer Kardioversion) in Betracht ziehen, wenn Betablocker, Amiodaron und Overdrive-Stimulation nicht wirksam/anwendbar
- Sedierung oder Vollnarkose zur Reduzierung des Sympathikusantriebs bei Patienten mit wiederkehrenden lebensbedrohlichen ventrikulären Arrhythmien in Betracht ziehen
- Behandlung asymptomatischer und hämodynamisch irrelevanter ventrikulärer Arrhythmien mit Antiarrhythmika nicht empfohlen
Bradyarrhythmien
- positiv chronotrope Medikamente (Adrenalin, Vasopressin und/oder Atropin) i.v. bei Sinusbradykardie mit hämodynamischer Instabilität oder hochgradigem AV-Block ohne stabilen Escape-Rhythmus empfohlen
- temporäres Pacing bei Sinusbradykardie mit hämodynamischer Instabilität oder hochgradigem AV-Block ohne stabilen Escape-Rhythmus empfohlen, wenn Patient*in nicht auf Atropin anspricht
- dringende Angiographie zur Revaskularisierung bei Sinusbradykardie mit hämodynamischer Instabilität oder hochgradigem AV-Block ohne stabilen Escape-Rhythmus empfohlen, wenn Patient*in keine vorherige Reperfusionstherapie erhalten hat
Exkurs: geschlechtsspezifische Unterschiede
- derzeit keine Daten vorhanden, die unterschiedliche Behandlung des ACS bezogen auf das Geschlecht unterstützen
- es gibt in mehreren Studien Hinweise darauf, dass Frauen anders behandelt werden als Männer, d.h. sie erhalten seltener eine invasive Koronarangiographie, eine rechtzeitige Revaskularisierung oder Medikamente zur Sekundärprävention
- Aufruf an alle Mitarbeitenden im Gesundheitssystem zur Sicherstellung, dass Frauen mit ACS eine evidenzbasierte Behandlung erhalten
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