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„Akutbegleitung nach Suizid“ (AGUS-Handbuch für Krisendienste und Notfallseelsorge)

Der Verein „AGUS e.V. – Angehörige um Suizid“ hat im März eine sehr lesenswerte und lehrreiche Broschüre mit dem Titel „Akutbegleitung nach Suizid – AGUS-Handbuch für Krisendienste und Notfallseelsorge“ veröffentlicht. Die wichtigsten Punkte aus dem Handbuch gibt es heute bei FOAMio als kleinen Beitrag.

Zahlen & Fakten

  • jährliche ca. 10.000 Suizide in Deutschland (10.304 Suizide im Jahr 2023) und ca. 10 – 20-fache Anzahl an Suizidversuchen
  • jeder dieser Suizide hinterlässt laut WHO i.d.R. 6 – 20 Personen, die emotional dadurch beeinträchtigt sind –> Hinterbliebene haben sich die Situation nicht ausgesucht, werden aber unvermittelt und mit voller Wucht damit konfrontiert
  • häufige Suizidmethoden: Erhängen, Ersticken, Strangulieren (50 %), Stürze in Tiefe (10 %), Vergiftungen (8 %), Schienensuizid (6 %)
  • Suizidrate steigt im Alter an
  • ca. 75 % der Suizide werden von Männern vollzogen
  • Forscher gehen davon aus, dass bei ca. 88 % der Suizident*innen eine (versteckte) psychische Erkrankung vorliegt, am häufigsten Depressionen (bei ca. 60 %)
  • nur ca. 50 – 60 % der Suizident*innen im Vorfeld über ihre Suizidgedanken (40 % der Appelle sind für die Umwelt nicht verstehbar und erst im Nachhinein einzuordnen
  • erste Stunden nach Suizid sind geprägt von Überforderung, Ohnmacht & Unverständnis
  • Psychosoziale Akuthilfe (PSAH) stellt erste wertvolle Unterstützungsmöglichkeit für Betroffene unmittelbar nach Bekanntwerden des Suizids dar

Grundsätzliches zum Thema „Suizid“

  • Suizidabsichten sind für Angehörige kaum zu erkennen, v.a. im Erwägungs-, Ambivalenz- und Entschlussstadium, denn ist die Entscheidung zum Suizid getroffen, ist Angehörige häufig eine Entlastung und vermeintliche Stabilität auf Seiten des Suizidenten spürbar –> Konfrontation mit dem Suizid ist darum dann noch schmerzhafter
  • (fast) immer ein Tod durch Gewalteinwirkung, was nicht selten mit teilweise schrecklichen Bildern, die real gesehen oder auch imaginiert werden, verknüpft ist
  • Suizid wird häufig auch als Entscheidung gegen ein Leben mit den Angehörigen gewertet –> Glaube an tatsächliche Liebe und Verbundenheit mit dem Verstorbenen wird erschüttert –> Abwertung und Zurückweisung durch die Suizident*innen –> Schuld-/Versagensgefühle & rückblickender Verlust der positiven Bindungserfahrungen
  • Suizid ist vermutlich die am stärksten tabuisierte Todesart in der Gesellschaft –> Angst vor Verachtung, Verurteilung oder Stigmatisierung durch die Gesellschaft –> Aufbau eines Lügenkonstrukt –> Unsicherheiten und fortschreitenden Vertrauensverlust innerhalb des sozialen Systems
  • CAVE: nicht ungewöhnlich, dass Hinterbliebene nach einem Suizid selbst Suizidgedanken oder Nachsterbephantasien entwickeln durch Mischung aus unerträglichem Leid, Verzweiflung, Hilflosigkeit, dem (meist unbewussten) Wunsch nach Bestrafung und dem Wunsch, dem Verstorbenen nahe zu sein –> primär eine normale Trauerreaktion –> bei Anzeichen für konkrete, unmittelbar drohende Eigengefährdung ärztliche Vorstellung
  • nur in ca. 42 % liegt ein Abschiedsbrief vor, jedoch ist für viele Hinterbliebene in den ersten Stunden die Suche nach einem Abschiedsbrief oder einer ähnlich gelagerten Notiz sehr wichtig –> Wunsch nach Erklärung und Worten der Verabschiedung, um quälende Fragen zu beantworten, was i.d.R. aber auch nicht ausreichend geschieht
  • da es sich um unnatürliche Todesursache handelt, ist im Falle eines Suizids immer die Kriminalpolizei involviert –> Ort des Geschehens zunächst wie Tatort behandeln –> polizeiliches Vorgehen löst bei Hinterbliebenen oft Unsicherheit aus –> Vermittler*innenrolle zwischen Polizei und Hinterbliebenen einnehmen

Reaktionen Akutbetroffener nach Suizid

  • komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren beeinflusst, wie Personen auf den Suizid reagiert
  • Reaktionen können innerhalb von kürzester Zeit variieren, sich widersprechen oder auch paradox wirken –> Vorhersagbarkeit kaum möglich
  • Reaktionen können so heftig sein, dass sie das Ausmaß und die Qualität bisheriger Erfahrungen übersteigen und vorhandene Bewältigungsstrategien nicht mehr ausreichen
  • verständliche Vermittlung, dass es sich um normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis handelt, stellt Entlastung und Möglichkeit der Einordnung dar (CAVE: schlecht durchgeführte Psychoedukation kann mehr schaden als nützen)
  • unmittelbar nach Bekanntwerden des Suizids erleben viele Betroffene eine Phase des Schocks („seelische Flucht“ zeigt sich durch Derealisationen, Dissoziationen oder in Form von Erstarrung, aber auch chaotische, ungerichtete und übersteigerte Handlungen möglich
  • durch Prozesse des „nicht-wahr-haben-Wollens/Könnens“ oder Leugnens wird unbewusst versucht der schrecklichen Wahrheit auszuweichen
  • in vielen Fällen entsteht in der Akutphase ein Funktionsmodus (Unterdrückung heftiger Gefühlsregungen; Trauer wird mehr oder weniger „aufgeschoben“, um Pflichten zu erfüllen oder äußeren Anforderungen gerecht zu werden)
GedankenGefühleVerhaltenKörper
– Leere im Kopf
– Gedankenrasen
– Konzentrationsschwierigkeiten
– Grübeln
– Schuldzuschreibungen
– Hinterfragen der Beziehung
– Sinnverlust
– Glaubensfragen
– Verlust gemeinsamer Lebenspläne / Zukunft
– Sorgen um wirtschaftliche Aspekte
– Schock
– Erschrecken
– Hilflosigkeit
– Ohnmacht
– Verzweiflung
– Fassungslosigkeit
– Traurigkeit
– Angst
– Taubheit
– Reue
– Wut
– Erleichterung
– Scham
– Schuld
– Orientierungslosigkeit
– Einsamkeit
– Sehnsucht
– Erschöpfung
– Überforderung
– Weinen
– Schreien
– Beten
– Funktionieren
– Rückzug
– Lähmung
– Sprachlosigkeit
– Flucht aus der Situation
– Aktivismus
– Ruhelosigkeit
– Hektik
– unkoordiniertes Verhalten
– paradoxe Reaktionen (z.B. Lachen)
– Stress-Reaktionen: Fight, Flight, Freeze
– erhöhter Puls und Blutdruck
– Schweißausbrüche
– Schwindel
– Herzrasen
– Muskelanspannungen
– flachere Atmung
– veränderter Appetit
– veränderter Schlaf
– Nervosität
– Dissoziationen
– Panikreaktionen

inhaltliche Ziele der Akutbegleitung

  • Realisieren/Annehmen des Todes
  • Trauerreaktionen ausleben
  • durch die Verzweiflung begleiten
  • (gedankliche) Ordnung, Struktur und Ruhe fördern
  • Stresssymptome bewältigen
  • Integration des Erlebten
  • ggf. Verabschiedung

Ablauf eines Einsatzes aus Sicht der PSAH-Helfenden

  • vorab Informationen einholen
  • Begegnung mit Betroffenen
  • Überblick verschaffen und strukturieren
  • Begleiten
  • Gesprächsende einleiten
  • ggf. Weitervermittlung
  • eigene Nachsorge

Psychische Erste Hilfe nach Hobfoll

  • Sicherheitsgefühl stärken
  • beruhigen und stabilisieren
  • Selbstwirksamkeitserleben stärken
  • Verbundenheit fördern
  • Hoffnung vermitteln

Maßnahmen der Psychosozialen Akuthilfe

  • Sicherheit vermitteln
  • Fakten & Erwartbares vermitteln
  • Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen
  • soziales Netz aktivieren
  • Ressourcen erkennen, fördern, aktivieren
  • Kinder (auch nicht anwesende) berücksichtigen
  • Abschiednahme durchführen
  • nächste Schritte besprechen
  • Psychoedukation durchführen
  • psychosoziale Hilfen nennen

Do’s & Dont’s

  • Do’s
    • Augenhöhe
    • mehr zuhören, weniger selbst sprechen
    • ruhig bleiben
    • Überblick behalten
    • ehrliches Interesse zeigen
    • Anteilnahme
    • Verständnis
    • Raum für Emotionen geben
    • Fragen ehrlich beantworten
    • eigene Unwissenheit zeigen
    • Schweigen/ Sprachlosigkeit aushalten
    • Namen des Verstorbenen nennen
    • Ressourcen erarbeiten
  • Dont’s
    • Gefühle missachten
    • bagatellisieren
    • ausfragen
    • beschuldigen
    • Unterstellungen
    • bewerten/urteilen
    • belehren
    • „kluge Sprüche“ oder Floskeln
    • Ironie oder Sarkasmus
    • Ratschläge
    • (zu viele) Fachbegriffe, Fremdwörter, Abkürzungen
    • nicht gesicherte Informationen weitergeben
    • Versprechen oder Zusagen, die nicht eingehalten werden können

Umgang mit Schuld in der PSAH

  • Hinterbliebenen Schuldgefühle lassen
  • nicht auf Schulddebatten einlassen
  • Schuld nicht ausreden
  • Schuld gemeinsam aushalten

besondere Situationen und Herausforderungen

  • Todesnachricht überbringen
  • Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen ist immer Aufgabe der Polizei
  • Überbringung der Todesnachricht sollte immer persönlich (nicht telefonisch!) und so rasch wie möglich erfolgen, um u.a. zu vermeiden, dass Angehörige durch Zufall, Dritte oder die Medien vom Suizid erfahren
  • vorher gesicherte Fakten klären und Absprachen treffen –> 6 W-Fragen als Richtschnur
    • Wer ist der Tote?
    • Was ist passiert?
    • Wann ist es passiert?
    • Wo ist es passiert?
    • Wohin wurde der Tote gebracht?
    • Woher bekommen Angehörige weitere Auskünfte?
  • tatsächlichen Überbringen der Nachricht sollte in der Wohnung und nicht an der Haustür erfolgen
  • Vermittlung der Todesnachricht sollte dann eindeutig, präzise und ohne Umschweife übermittelt werden (keine Floskeln und keine beschönigende Sprache, sondern klar und deutlich von „tot/verstorben“ sprechen)
  • Eigenschutz und Schutz der zu Begleitenden stets beachten –> Überbringung einer Todesnachricht ist eine belastende Situation und man sollte auf alle Reaktionen der Hinterbliebenen gefasst sein
  • Verabschiedung vom Leichnam ist nach einem Suizid vor Ort oftmals erschwert und nicht immer ratsam, v.a. durch die unmittelbare und unvorbereitete Konfrontation mit der Gewaltsamkeit und Unnatürlichkeit der Selbsttötung

Akteure im Psychosozialen Versorgungsnetz

  • Trauergruppen/-angebote
  • Selbsthilfegruppen z.B. AGUS
  • sozialpsychiatrischer Dienst
  • Beratungsstellen (Lebensberatung, SöVD, Erziehungsberatung, etc.)
  • Beratungsstellen bezüglich Finanzen/Erbschaft
  • Telefonseelsorge/KrisenKompass
  • Therapiemöglichkeiten (z.B. Trauma zentrierte Fachberatung)
  • Jugend-, Ordnungs-, Sozial- und Standesämter
  • Sozialstationen/Sozialarbeiter
  • Bestatter
  • schulpsychologische Dienste

Begleitung von Kindern/Jugendlichen

  • behutsame Kontaktaufnahme
  • kindliche Bedarfe und Bedürfnisse wahrnehmen
  • ernst nehmen / Augenhöhe
  • zeitnah über den Tod und die Todesursache aufklären
  • kindgerechte Informationen, Psychoedukation
  • Fragen möglichst ehrlich beantworten
  • Stärkung des Selbstwirksamkeitserlebens
  • eigene Entscheidungen treffen lassen
  • Ressourcen explorieren und aktivieren
  • Bezugspersonen stabilisieren, beraten und unterstützen
  • Aktivität und Ablenkung ermöglichen
  • mittel- und langfristige Hilfen vermitteln
  • Vermittlung von Struktur, Schutz und Sicherheit
  • Gefühlen Ausdruck verleihen (malen, schreiben, Musik, etc.)

Fähigkeiten und Kompetenzen Helfender in der PSAH

  • Einfühlungsvermögen / Empathie
  • Offenheit
  • Berührbarkeit
  • Reflexionsfähigkeit / eigene Stärken und Schwächen kennen
  • emotionale Festigkeit und Belastbarkeit
  • sozial gefestigtes Umfeld
  • gesundheitsförderliche Lebenshaltung
  • Gesprächstechniken zur zwischenmenschlichen Kommunikation
  • Sachkenntnisse (z.B. zum Thema Suizid)
  • Emotionsregulationsfähigkeit
  • Abgrenzungsfähigkeit
  • Distanzierungs- und Fokussierungstechniken
  • Umstellungsvermögen (vom Alltag in den Einsatz und zurück)

Reflexionsfragen NACH dem Einsatz

  • Wie geht es mir jetzt?
  • Was hat mich am Einsatz besonders bewegt?
  • Welche Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen?
  • Wie sehr war ich beim Gegenüber, wie sehr bei mir selbst?
  • Was war belastend?
  • Gab es etwas, das für mich unglücklich gelaufen ist?
  • Wo bin ich ggf. an meine Grenzen gekommen?
  • Was war bei all der Belastung auch gut?
  • Was würde ich wieder so machen?
  • Was gibt mir Mut für den nächsten Einsatz?
  • Was kann ich mir jetzt Gutes tun?
Published inIm Notfall Psychiatrie

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