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Leitlinie „akute Einwirkungen von chemischen Substanzen – Cholinesterasehemmer“ der BASF

veröffentlichende Fachgesellschaft: BASF Corporate Health Management – Humantoxikologie
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 01.01.2020
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.communications.extranet.basf.com/portal/basf/en/dt.jsp?setCursor=1_877454

Grundsätzliches

  • Cholinesterase-Hemmstoffe, z.B. Terbufos (COUNTER), Phorate (THIMET), Dimethoat (CYGON), Temephos (ABATE), Carbaryl
  • Synonyme: Anti-Cholinesterase-Pestizide, Organophosphate und N-Methylcarbamat-Insektizide
  • sind die derzeit meist verwendeten Insektizide
  • haben offensichtlich alle die gemeinsame Wirkungsweise einer Cholinesterasehemmung und können einander ähnliche, akute Symptome hervorrufen
    • Wirkstärke abhängig von der jeweiligen Substanz, auch im Hinblick auf Wirkprofil und Behandlung kann es deutliche Unterschiede geben
    • Identifikation des speziellen Wirkstoffes oder zumindest der jeweiligen Wirkstoffklasse sehr wichtig

Exposition

  • Cholinesterase-Hemmstoffe werden schnell über die Lunge aufgenommen
  • Cholinesterase-Hemmstoffe werden durch Haut und Schleimhäute aufgenommen
  • Cholinesterase-Hemmstoffe werden im Magen-Darm-Trakt aufgenommen

Symptomatik

  • auftreten innerhalb von Minuten oder verzögert bis zu 12 Stunden
  • bei leichter Vergiftung üblicherweise leichte Vermehrung der Sekretionen, wie z.B. Speichel, Tränen, Nasenabsonderungen und Schleim bei normalem Bewusstseinszustand
  • klassische Erstsymptome kann man sich mit dem Akronym ”SLUDGE” merken:
    • Speichelfluss (salivation)
    • Tränenfluss (lacrimation)
    • Wasserlassen (urination)
    • Durchfall (diarrhea)
    • Magen-Darm-Beschwerden (gastrointestinal distress)
    • Erbrechen (emesis)
  • andere mögliche Symptome sind Übelkeit, Schweiß und Engegefühl in der Brust
  • charakteristisches Zeichen ist Verkleinerung der Pupillen, allerdings schließt deren Ausbleiben die Diagnose nicht aus – insbesondere im Frühstadium kann es auch zu einer Pupillenerweiterung kommen
  • bei schweren Vergiftungen zeigen sich veränderter Bewusstseinszustand, starke Sekretionen und Schweißbildung, abnorme Pupillengröße, Schwäche, Muskelzucken, Brustschmerzen und Atemnot
  • lebensgefährdende Vergiftungen gehen mit Koma, Krampfanfällen, massiven Sekretionen, Cyanose, Lungenödem und Aussetzen der Atmung einher
  • Wirkung an Muskarinrezeptoren
    • sehr kleine Pupillen
    • verzerrte/verschwommene Sicht
    • starke Speichelsekretion
    • Tränen und nasale Sekretion
    • Schweiß- und Bronchialsekretion
    • Verengung der Bronchien
    • Übelkeit, Erbrechen
    • Durchfall, Bauchkrämpfe, Inkontinenz
    • niedriger Blutdruck und niedrige Herzfrequenz
  • Wirkung an ganglionären Nikotinrezeptoren
    • hohe Herzfrequenz
    • hoher Blutdruck
    • erweiterte Pupillen
  • Wirkung an Nikotinrezeptoren des Skelettmuskels
    • Zittern, Muskelzucken, Krämpfe
    • Schwächeanfälle
    • schlaffer Tonus
    • Atemschwäche
  • Wirkung auf zentrales Nervensystem
    • Schwindel
    • Agitiertheit
    • Angstzustände
    • Schwerfälligkeit
    • Kopfschmerzen
    • Verwirrtheit, Benommenheit
    • Anfälle
    • Bewusstlosigkeit

Maßnahmen

  • Eigenschutz durch Tragen eines umluftunabhängiges Atemschutzgerät und eines Chemieschutzanzug (kontaminierte Ausrüstung nicht nochmals verwenden!!!)
  • unmittelbare Rettung des Patienten aus Gefahrenbereich
  • Einleitung lebensrettender Maßnahmen gemäß ABC-Schema
  • Initiale Behandlung
    • Schnelligkeit ist entscheidend: sofortige Atemwegssicherung sowie O2-Gabe
    • Gegengift, Atropin, sollte zur Anwendung vorbereitet werden, falls entsprechende Erfahrung und Ausbildung vorliegt
    • bei guter Sauerstoffversorgung wird das bei Gabe von Atropin vorhandene Risiko einer Arrhythmie minimiert
    • bei schweren Vergiftungen sollte Behandlung gleichzeitig mit Reinigung erfolgen
    • nach Verschlucken kein Erbrechen herbeiführen
    • Erbrochenes und orale Sekrete durch Absaugen entfernen, um Aspiration zu vermeiden; dabei direkten Kontakt mit verunreinigten Flüssigkeiten unbedingt vermeiden
  • Intubationen, Absaugungen und andere Manipulationen des Kopfes und Halses vor Atropin-Gabe können nachhaltige Bradykardie hervorrufen
  • Magenspülung kann nach Verschlucken lebensbedrohlicher Menge in Betracht gezogen werden, wenn sie unmittelbar (innerhalb einer Stunde) nach dem Verschlucken durchgeführt werden kann
  • wenn der Patient nicht erbricht, kann Aktivkohle nach ärztlicher Verordnung in einer dem Erwachsenen, Kind oder Kleinkind angemessenen oralen Dosis verabreicht werden
  • bei Aufnahme von beachtlichen Mengen eines Cholinesterase-Hemmstoffes ist Durchfall und/oder Erbrechen so wahrscheinlich, dass weder die Gabe von Aktivkohle noch die eines Abführmittels indiziert ist
    • Magenspülflüssigkeit und Erbrochenes sind zu isolieren
  • Reinigung
    • bei reiner Exposition mit Dämpfen ohne Haut-/Augenreizung keine speziellen Reinigungsmaßnahmen
    • bei verunreinigter Kleidung, diese sofort entfernen
    • bei ophthalmologischer Beteiligung Augenspülung mit Wasser oder neutraler NaCl-Lösung über min. 5 Minuten (Kontaktlinsen vorher entfernen!!!)
      • Augenspülung sollte während anderer Hilfsmaßnahmen oder dem Transport fortgesetzt werden
    • bei direkter Haut-/Haarexposition Spülung mit Wasser über min. 15 Minuten

Akutpatienten

  • O2-Gabe
  • Gabe von 8 Sprühstößen Beclometason (Dosieraerosol)
  • Anlage pVK
  • bei Atemwegsverengung (Stridor/Bronchospasmus)
    • Adrenalin vernebeln (2 mg/2 mL mit 3 mL NaCl 0,9%)
    • i.v.-Gabe von 250 mg Methylprednisolon oder Äquivalent
  • bei toxischem Lungenödem (schaumiger Auswurf, feuchte RGs)
    • CPAP-Beatmung
    • i.v.-Gabe von 1000 mg Methylprednisolon oder Äquivalent
  • bei progredienter respiratorischer Insuffizienz
    • eskalierendes Atemwegsmanagement mit ETI oder ggf. Koniotomie
  • Antidottherapie
    • Atropin sollte intravenös verabreicht werden oder, falls nicht unmittelbar möglich, alternativ durch einen endotrachealen Tubus oder subkutan
    • je nach Schweregrad der Vergiftung bei Erwachsenen mit Dosis von 1 – 2 mg i.v. beginnen (bei Kindern unter 12 Jahren mit 0,05 mg/kgKG), danach alle 15 Minuten entsprechende Dosen verabreichen bis die exzessive Sekretion und der Schweiß unter Kontrolle sind
    • falls Diagnose gesichert ist, aber keine Reaktion auf die Behandlung erfolgt, Erhöhung der Dosis in Betracht ziehen
    • CAVE: Atropin ist nicht wirksam gegen nikotinische Effekte, insbesondere Muskelschwäche, Muskelzuckungen und Atemdepression
    • gleichzeitig sollte mit geeigneter Schutzkleidung die Reinigung fortgesetzt werden
    • weitere Dosen Atropin je nach Wiederauftreten der Symptome applizieren
    • bei starker Organophosphatvergiftung kann anfangs ein 50 mg Bolus notwendig sein, danach sollte einige Tage lang mit 0,5 – 2,0 mg/h kontinuierlich infundiert werden
    • falls größere Dosen notwendig sind, konservierungsmittelfreie Atropin-Präparate verwenden
    • Carbamatvergiftungen erfordern gewöhnlich viel geringere Atropin-Dosen über kürzere Zeitspanne
    • Verwendung von Opiaten, Parasympathomimetika, Theophyllin, Reserpin und Phenothiazin vermeiden
    • adrenerge Amine nur bei spezifischer Indikation verabreichen, wie z.B. bei niedrigem Blutdruck
    • bei Patienten mit signifikanten Beeinträchtigungen im ZNS und/oder der Funktion der Skelettmuskel, hervorgerufen durch Organophosphatvergiftungen (NICHT bei Carbamaten), kann Enzymreaktivator wie Pralidoxim oder Obidoxim zusammen mit Atropin effektiv sein
      • beste Wirkung wird erzielt, wenn er so bald wie möglich verabreicht wird
  • bei Anfällen nach Atropin-Therapie Benzodiazepine, z.B. Diazepam, intravenös
    • falls Anfälle anhalten oder wiederkehren, Phenobarbital und danach, falls notwendig, Phenytoin verabreichen
  • zur Therapie eines Lungenödems Furosemid geben, falls sogar nach maximaler Atropin-Gabe ein Rasseln in den Lungen zu hören ist
  • weitere Exposition ggü. Cholinesterase-Hemmstoffen muss verhindert werden, bis laborchemisch verifizierte ausreichende Regeneration der Cholinesterase erfolgt ist
  • Transport in Klinik mit intensivmedizischer Abteilung

asymptomatische Patienten

  • Beurteilung durch Arzt
  • Hinweis zur Alarmierung des Notrufs bei Verschlechterung des AZ
  • kein Rauchen für die nächsten 72 Stunden
  • keine körperliche Arbeit für die nächsten 24 Stunden
Published inLeitlinien kompakt

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