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Leitlinie „Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis“ der DEGAM

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 30.11.2015
Ablaufdatum: 29.11.2020
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-018.html

Definition

  • Unsicherheit im Raum, d.h. erlebter Verlust sicherer räumlicher Orientierung
  • Inkonsistenz zwischen den verschiedenen, peripher gewonnenen Informationen zur Lage im Raum – vermittelt über das Gleichgewichtsorgan, das Sehen, das Hören, die Muskelrezeptoren in den Beinen, dem Nacken etc.

Klassifikation

  • häufigste Diagnosen bei akutem Schwindel in der Hausarztpraxis sind:
    • psychogener Schwindel
    • benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
    • „Schwindel im Alter“/ komplexer Schwindel (letzterer dann anhaltend)
    • „zervikogener Schwindel“
    • Orthostase
    • unerwünschte Medikamentenwirkungen und „Neue Brille“
  • weitere, häufig gestellte Diagnosen sind:
    • Herzrhythmusstörungen
    • Morbus Menière
    • Neuritis vestibularis
    • Polyneuropathie
    • vestibuläre Migräne
    • zerebrale Durchblutungsstörungen

psychogener Schwindel (phobischer Schwindel)

  • lässt sich Schwindelart „Benommenheit“ zuordnen
  • häufig relativ dramatische Darstellungen des Schwindels bei zugleich wenig sichtbarer Beeinträchtigung des Patienten
  • oft mit „Alles dreht sich“ charakterisiert
  • Erbrechen und Stürze treten fast nie auf
  • Auslöser, Dauer und Art des Schwindels passen fast nie stimmig zueinander
  • Patienten sind meist erheblich beunruhigt, verängstigt
  • bei gutem Zuhören und Befragen findet man fast immer weitere Hinweise auf psychische – häufig angstbezogene
  • Symptome bzw. weitere am besten psychosomatisch interpretierbare Beschwerden

benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

  • lässt sich Schwindelart „Drehschwindel“ zuzuordnen
  • Attacken mit wenigen Minuten, ausgelöst durch Positionswechsel (meist bei Kopfdrehung oder Aufsetzen aus dem Liegen) sowie der reale Drehschwindel (Karussell) lässt diesen Schwindel leicht erkennen
  • Drehschwindelattacke von 10 – 30 Sekunden bis Minuten Dauer, wenn wesentlich länger, an andere Diagnose denken
  • Wiederholung mehrmals am Tag und/oder über Tage
  • Ursache wahrscheinlich Canalolithen (Ablagerungskörnchen) im – insbes. posterioren – Bogengang des Vestibularorgans
  • führen durch die entsprechende Körper-/Kopfbewegung zu „Irritation“ der im Bogengang befindlichen sensiblen Strukturen und melden dann scheinbare Bewegungen, die nicht mit gemeldeter gesehener und/oder anders wahrgenommener Bewegung (also auch anderen Bogengängen und insbes. dem gegenüber liegendem Vestibularapparat) übereinstimmt
  • bei Lagerung zum betroffenen Ohr mit Latenz einsetzender Nystagmus zum unten liegenden (betroffenen) Ohr

Schwindel im Alter

  • lässt sich Schwindelart „Benommenheit“ zuordnen
  • stellt keine allgemein akzeptierte Entität dar
  • Komplex von leichteren Störungen der Organsysteme, die zur Orientierung im Raum beitragen, in der Gesamtheit zu einem Schwindelgefühl beitragen

orthostatischer Schwindel

  • lässt sich dem „Schwankschwindel/Prä-Synkope“ zuordnen
  • leicht identifizierbar durch die Lageabhängigkeit und – oft – das Gefühl drohender Ohnmacht (Prodromi)
  • sitzt oder liegt der Patient oder läuft er eine Weile, dann verschwindet der Schwindel umgehend bzw. tritt in dieser Situation in der Regel nicht auf

Schwindel aufgrund von Herzrhythmusstörungen

  • ähnlich wie bei der Orthostase ist die Symptomatik bei Rhythmusstörungen; hier aber ohne Lagerungsabhängigkeit
  • bradykarde Rhythmusstörungen
    • Sick Sinus-Syndrom, höhergradiger AV-Blockierungen oder permanentes Vorhofflimmern mit langsamen Kammerfrequenzen
    • Patienten spüren teilweise langsamen Herzschlag, langsames „Holpern“ des Herzens – es sei denn, es kommt zu einem Adam-Stokes-Anfall, der in der Regel zur Sekunden-Bewusstlosigkeit führt
  • tachykarder Rhythmusstörungen
    • ventrikulärer Tachykardien in Form von (nicht-) anhaltenden Kammertachykardien und Torsade-de-pointes Tachykardien sowie regelmäßige supraventrikuläre Tachykardien und selten Vorhofflimmern
    • Schwindelgefühl und fast immer mit erlebtem „Herzjagen“

Schwindel bei obstruktiven Herzerkrankungen

  • Flußobstruktion des rechten bzw. linken Herzens wie bei Aortenklappenstenose, hypertroph-obstruktiver Kardiomyopathie und Vorhofmyxom oder Obstruktion der Pulmonalisstrombahn im Rahmen einer Lungenembolie als Ursache
  • Schwindel überwiegend bei körperlicher Anstrengung, da Obstruktion hinderlicher für ausreichendes Auswurf-Volumen an Blut ist

zervikogener Schwindel

  • lässt sich dem „Schwankschwindel“ zuordnen
  • ausgelöst durch Bewegung, insbesondere im HWS-Bereich
  • Patienten haben meist weitere Symptome eines sog. HWS-Syndroms

Neuritis vestibularis/akuter Labyrinth-Ausfall

  • lässt sich dem „Drehschwindel“ zuordnen
  • wird als viral oder paraviral verursachte Erkrankung angesehen
  • erheblicher Drehschwindel, Fallneigung zur kranke Seite sowie Übelkeit und fast immer Erbrechen, Nystagmus
    • horizontaler – auch rotatorischer – Spontannystagmus zur gesunden Seite, Fallneigung zur kranken Seite
  • Tage bis Wochen dauernder Schwindel

Polyneuropathie

  • lässt sich der „„Gangunsicherheit mit klarem Kopf“ zuordnen
  • Patienten geben an, dass nur beim Laufen – nie beim Sitzen oder Liegen – Unsicherheit auftritt, der Kopf ganz klar sei, sie aber „stacksen“, ins Leere treten
  • weitere Symptome einer Polyneuropathie wie z.B. Parästhesien liegen vor

Morbus Menière

  • lässt sich dem „Drehschwindel“ zuordnen
  • Genese: wohl endolymphatischer Hydrops
  • abrupter Beginn, Decrescendo, Minuten bis in der Regel max. 5 Stunden Dauer, aber meist 2-3 Tage bis wieder normal
  • typischer Trias: Drehschwindel, Hörminderung, Tinnitus; dazu: Fallneigung, Nystagmus

Vestibularisparoxysmie

  • Sekunden bis wenige Minuten anhaltende Attacken von Dreh- oder Schwankschwindel mit oder ohne Hörstörungen (Tinnitus, Hörminderung)
  • Schwindel bei Migräne und vestibulärer Migräne
  • Ausdruck einer Migräne ohne Kopfschmerz
  • lässt sich eher dem „Schwankschwindel“ zuordnen; bei vestibulärer Migräne eher „Drehschwindel“

Charakterisierungen der Schwindelarten

Drehschwindel

  • Drehen (Karusselfahren) im Sinne von Wegwandern der Horizontlinie (in der Vertikalebene beim sogenannten Liftschwindel)
  • geht oft mit heftigem Erbrechen oder Fast-Erbrechen einher
  • hält – je nach Ursache – Sekunden, Minuten, Stunden, Tage bis Wochen an

Gangunsicherheit (mit klarem Kopf)

  • Kopf eigentlich frei von Schwindel, zumindest ist durch Kopfbewegungen Schwindel nicht auslösbar, sondern nur durch das Gehen
  • hält meist nur so lange an, wie gelaufen wird
  • kein Erbrechen oder Übelkeit

Schwankschwindel (ohne klaren Kopf) und drohende Ohnmacht ((Prä)-Synkope)

  • Gefühl drohender Ohnmacht/Schwarzwerden vor Augen
  • durch Aufrichten (Orthostase, z.B. bei Medikamenteneinnahe wie Antihypertensiva), Wenden des Kopfes nach hinten oder zur Seite (der „Carotis-Sinus“ sowie der zervikogene Schwindel) ausgelöst
  • Aufrichten aus dem Liegen kann zu Sekundenschwindel – bei Vorliegen eines Benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels (BPPV) – führen
  • tachykarde Rhythmusstörungen als Ursache von kurzem Schwindelgefühl werden als Rhythmusstörungen nur teilweise gespürt
  • bei bradykarden Rhythmusstörungen mit Schwindel liegen manchmal auch gleichzeitig oder davon zeitlich getrennt Synkopen vor

Unsicherheit im Raum ohne klaren Kopf

  • Trieselig-sein, Nachschwanken, komisches Gefühl im Kopf oder Gefühl des Wegsinkens
  • dauert – je nach Ursache – Minuten, häufiger aber Stunden oder gar Tage lang an
  • teilweise – je nach Ursache – wird er unterbrochen, tritt dann unter bestimmten „Auslösebedingungen“ wieder auf
  • häufig durch Kopfbewegungen oder durch Lageveränderungen verstärkt
  • Erbrechen oder Übelkeit nur selten

Auslöser

  • Medikamente, bei denen Schwindel gehäuft auftritt
    • ZNS und Bewegungsapparat (Antiepileptika, Analgetika, Tranquilizer, Muskelrelaxantien, Hypnotika, Antiemetika, Antidepressiva, Anticholinergika, Dopaminagonisten, Antiphlogistika, Lokalanästhetika)
    • Infektionen (Antibiotika, Tuberkulostatika, Antimykotika, Anthelminthika)
    • Herz und Gefäße (Betarezeptorenblocker, Antihypertonika, Vasodilatatoren, -konstriktoren)
    • Niere und Blase (Diuretika, Spasmolytika
    • sonstige (Antiallergika, Röntgenkontrastmittel, Prostaglandine)

zusätzliche Symptome

  • bei neurologischen und HNO-ärztlichen Erkrankungen
  • heftige Übelkeit oder Erbrechen
  • Nystagmus
  • angstbestimmte Symptome

Diagnostik und Anamnese

  • strukturierte, ausführliche Anamnese bei jedem Beratungsanlass wegen des Symptoms Schwindel; bei wiederkehrenden Vorstellungen soll insbesondere auf Änderungen in der Symptomatik achten
  • Untersuchung
    • besonders ausführliche Aufklärung über Art und Ursache der Beschwerden bei Patienten mit Schwindel, da Patienten oft erheblich beunruhigt sind
    • allgemeiner Status
      • Blässe (Conjunktiven)
      • augenscheinlich andere, z.B. konsumierende Erkrankungen
      • Bewegung des Patienten: hält er sich fest, wenn er abgelenkt ist? Steht er stabil oder nicht?
      • Darstellung der Symptomatik: dramatisierend oder sachlich / ruhig?
      • Angst / Beunruhigung
    • Kreislauf
      • Blutdruck, ggf. im Stehen, Puls
      • Herzauskultation
      • ggf. bei Verdacht – Prüfung auf Subclavian-Steal-Syndrom
      • ggf. bei Verdacht – unter EKG-Kontrolle Carotis-Druck-Versuch
      • Zeichen der Herzinsuffizienz, Stauung
      • EKG bei Verdacht auf rhythmogenen Schwindel durchführen
    • HWS-Untersuchung
      • muskuläre Verspannungen, segmentale BewegungsStörungen auch in Retro- und Anteflexion der HWS
    • neurologische Untersuchung
      • Reflexstatus
      • Sensibilität an den Beinen

abwendbare gefährliche Verläufe/Red Flags

  • akute zerebrale Durchblutungsstörungen
    • z.B. Basilarisinsuffizienz, Basilaris-Insult oder Wallenberg-Syndrom
  • kardio-vaskulären Grunderkrankung
    • Auftreten von vital bedrohlichen, bradykarden und tachykarden Herzrhythmusstörungen (höhergradige AV-Blockierung, Sick-Sinus Syndrom, Kammertachykardien) sowie Möglichkeit einer Aortenklappenstenose bedenken und ausschließen
    • Schwindel kann auch einziges Symptom einer akuten zerebrovaskulären Ischämie darstellen; zudem können sowohl maligne Herzrhythmusstörungen, Aortenstenose oder obstruktive Kardiomyopathie zeitnah zu diagnostizerenden Schwindel-Ursachen darstellen
  • Patienten mit neu aufgetretenem M. Menière, akutem Drehschwindel, Herpes zoster oticus, Schwindel bei unklarem Trommelfellbefund oder anderen kombinierten Hör- und Gleichgewichtsstörungen und therapierefraktärem Schwindel zeitnah zum Spezialisten überweisen
  • als „red flags“ sind vor diesem Hintergrund anzusehen:
    • Gesichtsschmerzen und ggf. einseitigem „Hautausschlag“ ( H. zoster)
    • Ohrdruck – meist kurz vor dem Schwindel beginnend (M. Menière)
    • länger gehende Anamnese mit Hörstörungen (hohe Töne) und Fazialisparese (Akustikusneurinom)
    • vertikaler Nystagmus, der eher auf zentrale Störung hinweist
    • neurologische Auffälligkeiten wie: Seh-/SchluckStörungnen, Störungen der Vigilanz, Paresen
    • Synkope, andere Hinweise auf bedrohliche Rhythmusstörungen

Therapie

  • Dimenhydrinat als Einzelsubstanz sowie Betahistin als Einzelsubstanz oder Dimenhydrat in Kombination mit Cinnarizin haben nachweisbaren Nutzen bei vertretbaren unerwünschten Wirkungen – kurzfristige Gabe, wenn Indikation besteht
    • gehören in die Gruppe der „sedierenden Antihistaminika“
    • haben antiemetischen Effekt und können vegetativen Begleiterscheinungen des Schwindels mildern
    • durch sedierenden Effekt positiver Einfluss auf begleitende Unruhe und Angst
Published inLeitlinien kompakt

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