veröffentlichende Fachgesellschaft: Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) der Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zur Qualitätsförderung in der Medizin
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 29.09.2022
Ablaufdatum: 28.09.2027
Quelle/Quelllink: https://www.leitlinien.de/themen/depression
Vorgänger-Leitlinie: https://foamio.org/leitlinie-unipolare-depression-des-nvl/
Definition
- Depression
- psychische Störung, gekennzeichnet durch deutlich gedrückte Stimmung, Interessenlosigkeit, Antriebsminderung über längeren Zeitraum
- häufig verbunden mit verschiedenen körperlichen Beschwerden
- es gelingt nur schwer oder nicht alltägliche Aufgaben wahrzunehmen
- Betroffene leiden unter starken Selbstzweifeln, Konzentrationsstörungen und Grübelneigung sowie Schlaf- und Appetitstörungen
- Dysthymie
- min. seit zwei Jahren bestehende (chronifizierte) depressive Verstimmung
- depressive Symptomatik ist aber nicht ausreichend schwer, um Kriterien für leichte oder mittelgradige (rezidivierende) depressive Störung zu erfüllen
- wenn akute depressive Episode Dysthymie überlagert = „double depression“
Exkurs bipolare Störung
- depressive Episoden gemischt oder im häufigen Wechsel mit (hypo-)manischen Phasen
- Symptomatik
- auffällig gehobene, euphorische, expansive oder gereizte Stimmung
- vermehrter Antrieb, vermehrte Aktivität
- Antriebssteigerung, Rededrang, Ideenflucht, reduzierte soziale Hemmungen, vermindertes Schlafbedürfnis, Ablenkbarkeit, riskantes Verhalten und gesteigerte Libido
- überhöhte Selbsteinschätzung/Größenwahn, andauernder Wechsel von Aktivitäten, rücksichtsloses und tollkühnes Verhalten
- Dauer ≥ 1 Woche (Manie) bzw. ≥ 4 Tage (Hypomanie) bzw. ≥ 2 Wochen (gemischte Episode)
Exkurs Zyklothymien
- anhaltende affektive Störung, die durch einen Wechsel von Episoden leicht gehobener und leicht depressiver Stimmung gekennzeichnet ist
Exkurs depressive Anpassungsstörungen, Trauerreaktionen
- enger zeitlicher Bezug zu klar benennbaren Auslöser
- Nachlassen meist innerhalb von sechs Monaten
- grundsätzliche Ansprechbarkeit für positive Ereignisse
- eher wellenartiges Auftreten der negativen Gefühle
- keine vegetativen Symptome (z. B. keine Gewichtsabnahme, kein frühmorgendliches Erwachen)
- keine Anzeichen für andauernde, schwere Selbstzweifel oder starke Schuldgefühle
- meist keine anhaltenden Einschränkungen der Funktionsfähigkeit (familiär, sozial, beruflich …)
Verläufe unipolarer depressiver Störungen
Dauer und Verlauf depressiver Episoden
Symptomatik und Diagnostik
depressive Episode
- Hauptsymptome
- depressive, gedrückte Stimmung
- Niedergeschlagenheit, Verzweiflung
- Gefühllosigkeit gegenüber positiven wie negativen Ereignissen, rasche Irritierbarkeit, Gefühl der Überforderung
- ggf. mit Angstgefühlen/Zukunftsangst und Unsicherheit
- Änderung der Stimmung von Tag zu Tag unabhängig von den Lebensumständen
- charakteristische Tagesschwankungen (z.B. „Morgentief“)
- Interessenverlust und Freudlosigkeit
- kein Interesse und Engagement für Alltagstätigkeiten
- kein Interesse und keine Freude an bisherigen Hobbies und Freizeitaktivitäten
- Rückgang des Aktivitätsniveaus
- Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit
- Vernachlässigung von und schnelle Erschöpfung durch einfache Alltagsaktivitäten (Haushalt, Körperpflege)
- kein Interesse an sozialen Kontakten
- Rückzug
- depressive, gedrückte Stimmung
- Zusatzsymptome
- verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle
- psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung
- Hoffnungslosigkeit
- Schlafstörungen
- Appetitstörungen
- Suizidgedanken/Suizidhandlungen
- somatische Symptome
- Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
- mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
- frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit
- Morgentief
- objektiver Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit
- deutlicher Appetitverlust
- Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts im vergangenen Monat
- deutlicher Libidoverlust
- psychotische Symptome
- Verarmungswahn
- Hypochondrischer Wahn
- Versündigungs- und Verschuldungswahn (Überzeugung, schuldig zu sein für spezielle Ereignisse oder allgemein für alles Unglück der Welt)
- Nihilistischer Wahn (Überzeugung, innerlich tot und/oder in einem Totenreich zu sein)
- Verkleinerungswahn (Überzeugung, körperlich ständig weiter zu schrumpfen)
- Halluzinationen (meist akustischer Art)
- depressiver Stupor
- Beschwerden und Merkmale, die auf eine depressive Störung hinweisen
- allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Kraftlosigkeit
- Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen)
- Appetitstörungen, Magendruck, Gewichtsverlust, Obstipation, Diarrhöe
- diffuser Kopfschmerz
- Druckgefühl in Hals und Brust, Globusgefühl
- funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf (z. B. Tachykardie, Arrhythmie, Synkopen), Atmung (z. B. Dyspnoe), Magen und Darm
- Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Sehstörungen
- Muskelverspannungen, diffuse Nervenschmerzen (neuralgiforme Schmerzen)
- Libidoverlust, Sistieren der Menstruation, sexuelle Funktionsstörungen
- Gedächtnisstörungen
- Merkmale des äußeren Erscheinungsbildes und des interaktionellen Verhaltens
- Vernachlässigung von Körperpflege und Kleidung
- veränderte Gestik, Mimik und Physiognomie
- verändertes Sprechverhalten (Klang, Tempo, Modulation)
- Beeinträchtigung des sprachlichen Ausdrucks und des Sprachverständnisses
- psychomotorische Verlangsamung
Diagnosestellung
Symptome, welche als Red Flag gelten
- da depressive Patienten selten spontan über typische depressive Kernsymptome berichten und eher unspezifische Beschwerden wie Schlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetitminderung, allgemeine Kraftlosigkeit, anhaltende Schmerzen und/oder körperliche Beschwerden angeben, soll das Vorliegen einer depressiven Störung bzw. das Vorhandensein weiterer Symptome einer depressiven Störung aktiv exploriert werden
- allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Mattigkeit
- Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen)
- Appetitstörungen, Magendruck, Gewichtsverlust, Obstipation, Diarrhöe
- diffuser Kopfschmerz
- Druckgefühl in Hals und Brust, Globusgefühl
- funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf (z.B. Tachykardie, Arrhythmie, Synkopen), Atmung (z.B. Dyspnoe), Magen und Darm
- Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Sehstörungen
- Muskelverspannungen, diffuse Nervenschmerzen (neuralgiforme Schmerzen)
- Libidoverlust, Sistieren der Menstruation, Impotenz, sexuelle Funktionsstörungen
- Gedächtnisstörungen
Risikofaktoren
- biologische Faktoren wie genetische Vulnerabilität, körperliche Risikofaktoren (Metabolik, Stoffwechselstörungen, Adipositas) oder hormonelle Umstellung während Pubertät, Schwangerschaft/Wochenbett & Perimenopause
- soziodemografische Faktoren wie Geschlecht, höheres Alter, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, niedriger sozioökonomischer Status, Armut
- andere psychische Störungen, v. a. Angst-, Substanzgebrauchs- und Persönlichkeitsstörungen sowie Suizidversuche in der eigenen Vor- oder der Familiengeschichte
- psychosoziale Risikofaktoren wie Exposition ggü. Traumata/Katastrophen, Vereinsamung, Verwitwung, soziale Isolation, aktuell belastende Lebensereignisse, chronischer Stress, Burnout, Überforderung
- Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Rauchen, Bewegungsmangel
Risikofaktoren für Rückfälle/Rezidive
- höhere Anzahl vorangegangener depressiver Episoden
- kurzer Zeitraum zwischen vorangegangenen Episoden und Rezidiven (≥ 2 Rezidive innerhalb von ca. 5 Jahren)
- lange Dauer der vorangegangenen Episode(n)
- residuale Symptomatik (keine vollständige Remission)
- schwere Symptomatik
- jüngeres Alter bei Beginn der Symptomatik
psychischer Komorbidität
- Panikstörung
- generalisierte Angststörung
- soziale Phobie
- Agoraphobie
- posttraumatische Belastungsreaktion
- spezifische Phobie
- Zwangsstörung
- somatoforme Störungen
- Essstörung
- Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit
- Medikamentenmissbrauch oder -abhängigkeit
- Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit
- Verhaltenssucht
Suizidalität
- Beispielfragen zur Erfassung von Suizidalität
- Haben Sie schon einmal versucht, sich selbst etwas anzutun?
- Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie, wo und wann Sie sich selbst töten können?
- Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie sich in nächster Zeit tatsächlich das Leben nehmen?
- Gibt es Dinge in Ihrem Leben, die sie davon abhalten, sich selbst etwas anzutun?
Therapie & Kommunikation
- Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten der unipolaren Depression mit den unterschiedlichen Optionen mit ihren Vor- und Nachteilen umfassend und in verständlicher Form darstellen
- Diagnostik, Therapie und Kommunikation gemäß dem Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung
- wenn Patient*in einverstanden ist, Angehörige in die Aufklärung, Information und Behandlung einbinden
- keine Benzodiazepine und Z-Substanzen bei mittelschweren und schweren depressiven Episoden, außer in Einzelfällen wie bei Patient*innen mit stark belastenden Schlafstörungen oder starker Unruhe (ohne Suchterkrankungen in der Vorgeschichte!!!)
- bei psychotischer Depression psychopharmakologische Therapie anbieten (siehe Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen)
Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen
Suizidalität
- nur für das Vorgehen bei Suizidalität im Zusammenhang mit schweren depressiven Erkrankungen!!!
- Prinzipien der partizipativen Entscheidungsfindung sollen auch im Umgang mit suizidalen Patient*innen wahren
- konkretes Betreuungsangebot richtet sich nach Absprachefähigkeit und individuellen Risiko- und Umgebungsfaktoren
- Vorgehen gemäß BELLA-System im Sinne der Krisenintervention
- B: Beziehung aufbauen
- E: Erfassen der Situation
- L: Linderung der schweren Symptome
- L: Leute einbeziehen, die unterstützen können
- A: Ansatz zur Problembewältigung finden
- Merkmale des Gesprächs- und Beziehungsangebots an suizidale Patient*innen
- Akzeptanz von Suizidalität als Ausdruck seelischer Not
- empathisches Validieren der Situation von Betroffenen
- Entdramatisierung, aber Vermeiden von Bagatellisierung
- Vermittlung von Hoffnung, Hilfe und Chancen auf Veränderung (Zukunftsorientierung) sowie Förderung von Selbstwirksamkeitserleben
- Offenheit und Klarheit im Umgang mit Suizidalität
- offenes, direktes, ernstnehmendes Ansprechen von Suizidalität
- Offenheit und Transparenz in Bezug auf alle Behandlungsaspekte (Ergebnisse der Risikoabschätzung, Gestaltung der Krisenintervention, Setting-Entscheidungen inkl. Szenarien für Zwangseinweisungen)
- fürsorglicher Umgang mit einem schutzbedürftigen Menschen
- Raum und Zeit zur Verfügung stellen
- konkrete Vereinbarung über regelmäßigen zusätzlichen Kontakt (direkt oder telefonisch, mit Uhrzeit und Ort) und Klärung des Behandlungssettings (ambulant/stationär);
- „Sichernde Fürsorge“: Vermeiden von Alleinsein, Einbeziehung von Angehörigen oder Vertrauenspersonen; ggf. Zusammenarbeit mit den entsprechenden Krisendiensten für suizidale Menschen
- Akzeptanz von Suizidalität als Ausdruck seelischer Not
- bei akuter Suizidgefährdung mit fehlender Bereitschaft zur stationären Aufnahme und fehlender Absprachefähigkeit Patient*innen unter Berücksichtigung der individuell erforderlichen Sicherheitskautelen und unter Beachtung der gesetzlichen Regelungen notfallmäßig und ggf. gegen ihren Willen in stationäre psychiatrische Behandlung einweisen
- medikamentöse Therapie
- Benzodiazepine bei akuter Suizidalität und stark belastenden Schlafstörungen oder starker Unruhe unter der Voraussetzung engmaschiger Überwachung sowie unter Beachtung der Kontraindikationen
- ggf. im Notfall, insbesondere bei akuter Suizidalität, Esketamin intranasal erwägen
graduelle Ausprägungen von Suizidalität
- Stufe 1 – Lebensüberdruss, Wunsch nach Ruhe oder Pause („passiver Todeswunsch“)
- Stufe 2 – aktive Suizidgedanken ohne konkrete Planungen
- Stufe 3 – konkrete Suizidpläne oder -vorbereitungen (z. B. Abschiedsbrief, Methodenerwerb, Probehandlungen)
- Stufe 4 – suizidale Handlungen
Risikofaktoren
- demographische Faktoren
- männliches Geschlecht, höheres Alter (v. a. Männer > 70 Jahre)
- niedriger sozioökonomischer Status
- suizidbezogene Faktoren
- Suizidversuch(e) in der Anamnese
- Suizidgedanken, Suizidpläne und Abschiedsvorbereitungen
- Suizide in der Familiengeschichte oder kürzliche Suizide in der Umgebung der Patient*innen
- Zugang zu Mitteln und Methoden
- psychosoziale Faktoren
- Gefühl der Isolation und mangelnde soziale Unterstützung
- Beziehungskonflikte/Streitigkeiten oder Verluste
- Arbeitsplatzverlust/finanzielle Krisen
- Hoffnungslosigkeit
- klinische Symptomatik
- Substanzmissbrauch, Abhängigkeit
- chronische Schmerzen
- persistierende Schlafstörungen
- Agitiertheit
depressiver Stupor
- stationäre Einweisung und zusätzlich Gabe von Lorazepam erwägen
Agitiertheit, psychomotorische Erregungszustände
- bei hochgradiger Agitiertheit im Zusammenhang mit unipolaren Depressionen stationäre Einweisung und zusätzlich Gabe von Benzodiazepinen erwägen
psychotische Depression
- bei vital bedrohlichen Notfallsituationen bei psychotischen Depressionen schnellstmöglicher Transport in Klinik mit Möglichkeit der Elektrokonvulsionstherapie
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Notfallindikationen
- akute Selbst- oder Fremdgefährdung
- depressiver Stupor
- Einweisung prüfen bzw. angeraten
- wenn nach einem Suizidversuch medizinische Versorgung notwendig ist
- wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität nicht möglich ist
- bei Therapieresistenz gegenüber ambulanten Therapien
- bei der starken Gefahr einer (weiteren) Chronifizierung
- bei so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen
- bei hochgradiger Agitiertheit
- bei ausgeprägten psychotischen Symptomen
- bei drohender depressionsbedingter Isolation, Verwahrlosung und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren
- bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen (z. B. durch Milieuänderung)
- bei komorbiden Suchterkrankungen
- bei Dekompensation einer komorbiden somatischen Erkrankung infolge der Depression
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