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Leitlinie „Vestibuläre Funktionsstörungen“ der DGHNO-KHC

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie
Datum der Veröffentlichung: 28.03.2021
Ablaufdatum: 27.03.2026
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-078.html

Definition

  • kein Syndrom, sondern Leitsymptom verschiedener Erkrankungen unterschiedlicher Pathophysiologie, Ätiologie, die von Innenohr, Auge, Hirnstamm oder Kleinhirn ausgehen, aber auch psychische oder psychosomatische Ursachen haben
  • differentialdiagnostisch orthostatische Dysregulation oder unerwünschte Wirkungen von Medikamenten wie Antihypertensiva, Sedativa, Psychopharmaka oder Antikonvulsiva in Betracht ziehen
  • Schwindel wird oft weniger spezifisch eher im Sinne von Befindlichkeitsstörung und Unwohlsein verstanden und beschrieben

Klassifikation

  • periphere vestibuläre Syndrome, ausgehend vom Labyrinth und/oder dem Nervus vestibularisDifferenzierung typischer Symptome und klinischer Zeichen:
    • beidseitige Schädigung/Läsion der Vestibularorgane und/oder der Nn. vestibulares
    • akute oder chronische einseitige Läsion
    • paroxysmale pathologische Erregung oder Hemmung des Vestibularorgans / des N. vestibularis
  • zentrale vestibuläre Syndrome: entstehen überwiegend durch Läsionen der vestibulären Bahnen, die von den Vestibulariskernen im kaudalen Hirnstamm sowohl zum Cerebellum als auch zum Thalamus und vestibulären Cortex ziehen, oder durch eine Schädigung des Vestibulozerebellums
  • funktionelle Schwindelsyndrome
    • „Persistent Postural Perceptual Dizziness“ (PPPD)
    • phobischer Schwankschwindel
    • visuiell-induzierter Schwindel
  • nicht-vestibuläre und Nicht-funktionelle Schwindelsyndrome (z. B. orthostatische Dysregulation, unerwünschte Wirkung von Medikamenten)

Unterscheidungskriterien verschiedener Schwindelsyndrome

  • Art des Schwindels: Drehschwindel, Schwankschwindel, Kippschwindel, Liftschwindel oder Benommenheitsschwindel
  • Dauer des Schwindels: Schwindelattacken (Sekunden, anhaltend) oder Dauerschwindel
  • Auslösbarkeit/Verstärkung des Schwindels: bereits in Ruhe vorhanden oder spontan auftretend (z.B. akute einseitige Vestibulopathie, Hirnstamm- oder Kleinhirninfarkt, Morbus Menière, Vestibularisparoxysmie, beim Stehen und Gehen ohne Beschwerden im Liegen und Sitzen unter statischen Bedingungen (z.B. bilaterale oder persistierende einseitige Vestibulopathie), in bestimmten sozialen Situationen (funktioneller Schwindel) oder bei Druckänderungen (Syndrome des dritten mobilen Fensters)
  • Begleitsymptome: Hörminderung, Tinnitus, Ohrdruck, Übelkeit/Erbrechen, Kopfschmerz, Licht- oder Lärmempfindlichkeit, Angst, Oszillopsien

Diagnostik/Anamnestik

  • zeitliche Kategorisierung
    • Zuordnung des Beschwerdebildes zu einem akuten, episodischen oder chronischen vestibulären Syndrom
  • auslösende Faktoren (z.B. Änderung der Kopforientierung, Druckänderungen z.B. mit Valsalva Manöver oder beim Heben von Lasten) und verstärkende Faktoren (z.B. Kopfbewegungen während einer Episode von vestibulärer Migräne Körperschwankungen beim Gehen im Rahmen einer bilateralen Vestibulopathie oder rasche Blickbewegungen bei okulärem Schwindel)
  • Begleitsymptome
    • neurologisch (Doppelbilder, Hemiparese oder Hemihypästhesie bei Hirnstamminfarkten)
    • Gehör betreffend (Schwerhörigkeit und/oder Tinnitus)
    • internistisch (kardiale Beschwerden, wie z. B. Brustschmerzen oder vom Patienten selbst wahrgenommene Herzrhythmus-Störungen)
  • Differenzierung:
    • peripher vestibuläre Erkrankungen
    • zentral vestibuläre Erkrankungen inkl. Differenzierung peripher vs. zentral
    • funktioneller Schwindel
  • klinische Untersuchung dient vor allem dazu, peripher vestibuläre Schädigung von zentraler Schädigung, z.B. einem Schlaganfall vor allem im Akutstadium, abzugrenzen
  • Blutdruckmessung
    • Hypotension und orthostatische Dysregulation eher bei peripher vestibulären Krankheitsbildern, arterielle Hypertension eher bei zentralnervösen Bildern

Symptomatik

benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel

  • rezidivierende, durch Kopflageänderungen relativ zur Schwerkraft ausgelöste, Sekunden dauernde Drehschwindelattacken (ca. 20 sec)
  • Übelkeit und Oszillopsien
  • Auslöser: Hinlegen oder Aufrichten im Bett, Umdrehen im Bett, Bücken und/oder Kopfreklination

akutes vestibuläres Syndrom (AVS), akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP)

  • akut oder subakut entstehender Schwindel (in Sekunden, über Minuten oder Stunden)
    • initial meist heftiger Dauerdrehschwindel
  • unscharfes Sehen
  • Intoleranz gegenüber Kopfbewegungen (passiv oder aktiv)
  • Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus
  • Fallneigung, Gang-Unsicherheit
  • Brechreiz oder Erbrechen
  • Dauer 24 Std. – mehrere Wochen
  • Symptomverstärkung bei Bewegung
  • keine signifikante begleitende akute Hörminderung oder Tinnitus
  • keine Symptome einer zentralen Störung

akute Labyrinthitis

  • Unterscheidung
    • tympanogene Labyrinthitis: Infektion des Mittelohres (z.B. als Komplikation der akuten Otitis media)
    • meningeale Labyrinthitis: Begleiterscheinung einer Meningitis
    • hämatogene Labyrinthitis: z. B. bei Infektionen mit Mumps, Masern, Zytomegalie, HIV, Lues und Borrelien
  • vorausgehende Otalgie (bei tympanogener Labyrinthitis)
  • rasch progrediente Hörminderung
  • Schwindel und/oder Ohrdruck
  • fakultativ Übelkeit und Erbrechen
  • ggf. Fieber

akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust (Hörsturz)

  • ohne erkennbare Ursache plötzlich auftretende, in der Regel einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit cochleärer Genese von unterschiedlichem Schweregrad bis hin zur Ertaubung
  • ggf. Schwindel und/oder Ohrgeräusche (Tinnitus)
  • DD: Hirnstammischämie/ -blutung, virale Infektion (z.B. Adenoviren, Zoster, Mumps), toxische Einflüsse (z.B. Arzneimittel, Drogen, Gewerbegifte), dialysepflichtige Niereninsuffizienz, Traumata (Baro-, Schall- und Schädeltrauma), Labyrinthitis (z.B. bei Mittelohrentzündung, Borreliose, Lues), Meningitis, HerzKreislauferkrankunge (Blutdruckregulationsstörung), psychogene Hörstörungen

bilaterale Vestibulopathie

  • chronisches vestibuläres Syndrom mit mindestens zwei der folgenden Symptome:
    • Unsicherheit beim Gehen oder Stehen
    • bewegungsinduziertes unscharfes Sehen oder Oszillopsien beim Gehen oder schnellen Kopfbewegungen
    • Verschlechterung des Schwankschwindels in der Dunkelheit und/oder auf unebenem Boden
  • keine Symptome beim Sitzen oder Liegen unter statischen Bedingungen
  • bilateral reduzierte/fehlende Funktion des horizontalen vestibulo-okulären Reflexes (VOR)

Morbus Meniére (endolymphatischer Hydrops, hydroptische Innenohrerkrankung)

  • Trias aus
    • Drehschwindel (zwei oder mehr spontan auftretende Schwindelattacken von 20 min–12 h Dauer)
    • rezidivierende, meist einseitige sensorische Schwerhörigkeit (meist Tieftonschwerhörigkeit, die sich in späteren Stadien zu einer pantonalen Innenohrschwerhörigkeit entwickelt)
    • Tinnitus
    • (fakultativ ipsilateralem Ohrdruck/Völlegefühl für 20 min – 12 Std.)
  • häufige Differentialdiagnosen
    • Hörsturz mit vestibulärer Beteiligung
    • Polyneuropathie
    • vestibuläre Migräne
    • Vestibularisparoxysmie (neurovaskuläres Kompressionssyndrom)
    • zerebrovaskuläre Erkrankung (Schlaganfall/TIA im vertebrobasilären Stromgebiet oder Hämorrhagie)
    • Diabetes mellitus mit Hypoglykämie

vestibuläre Migräne

  • min. 5 Episoden mit vestibulären Symptomen mittlerer oder starker Intensität und einer Dauer von 5 min-72 h
  • aktive oder frühere Migräne mit oder ohne Aura bzw. ein/mehrere Migränesymptome während mindestens 50% der vestibulären Episoden
  • Kopfschmerzen mit mindestens 2 der folgenden Merkmale:
    • einseitige Lokalisation
    • pulsierender Charakter
    • mittlere oder starke Schmerzintensität,
    • Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten
    • Photophobie und Phonophobie
    • visuelle Aura

Therapie

akutes vestibuläres Syndrom (AVS), akute unilaterale
Vestibulopathie (AUVP)

  • Dimenhydrinat (oral 50 mg – 100 mg oder iv. oder rektal (max. tgl. Dosis 400 mg)
  • Ondansetron (oral 4 – 8 mg, bis zu 4x 8 mg/d; oder i.v. 4 mg – 8 mg i.v. (max. Dosis 32 mg/d)
  • Lorazepam (oral 0.5- 1 mg bis 4 mg/d)
  • Empfehlung bei akuter unilateraler Vestibulopathie mit Corticosteroiden in einer Äquivalenzdosis von 250 mg Prednisolon/d oral oder i.v. die Therapie unmittelbar nach Symptombeginn zu beginnen

akute Labyrinthitis

  • akute Ausfall oder Teilausfall der Innenohrfunktionen für Hören oder Gleichgewicht im Rahmen einer akuten Labyrinthitis muss als Notfall behandelt werden

akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust

  • systemische Verabreichung von Prednisolon in hoher Dosierung (≥ 250mg über mehrere Tage)

vestibuläre Migräne

  • bei längeren Attacken frühzeitige Einnahme eines nichtsteroidalen Antiphlogistikums (z.B. Ibuprofen, Diclofenac als Suppositorien) oder eines Analgetikums (z.B. ASS als Brausetablette); ggf. in Kombination mit einem Antiemetikum (z.B. Dimenhydrinat, Metoclopramid, Domperidon) sinnvoll
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