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„Strahlennotfallmedizin – Handbuch für die medizinische Versorgung und Ausbildung“ der SSK

veröffentlichende Fachgesellschaft: Strahlenschutzkommission (SSK)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 28.08.2022
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2022/2022-07-08_Empf_Strahlennotfallhandbuch.pdf?__blob=publicationFile

Grundsätzliches

  • Strahlenunfälle sind seltene Notfälle, v.a. solche mit hohen Zahlen an Betroffenen
  • Einteilung
    • (radiologischer) Notfall (§ 5 Abs. 26 StrlSchG)
      • Ereignisse, die durch alle anderen radioaktiven Stoffe oder Quellen verursacht werden
    • bedeutsames Vorkommnis (§ 1 Abs. 22 StrlSchV)
    • nukleare Unfall, also Unfall in kerntechnischer Anlage
      • Unterkategorie des radiologischen Notfalls
      • Ereignisse mit Gefährdung spezifisch ausgehend von Kernbrennstoffen und/oder den Auswirkungen einer nuklearen Kettenreaktion
  • Kontamination können sowohl durch externe und intern Exposition entstehen
  • ca. 418 000 beruflich exponierte Personen im Jahr 2017 (72 % im medizinischen Bereich)
  • Dosisgrenzwertüberschreitungen > 20 mSv pro Kalenderjahr sehr selten
  • Definitionen zu Dosisgrößen
    • „Energiedosis“: von Masse (Gewebe) aufgenommene Energie in Gray (Gy)
    • „Äquivalentdosis“: von Masse (Gewebe) aufgenommene Energie unter Berücksichtigung der biologischen Wirksamkeit der vom Gewebe aufgenommenen Energie in Sievert (Sv)
    • „effektive Dosis“: Summe gewichteter Organ-Äquivalentdosen in Sievert
    • „effektive Folgedosis“: Dosis, die sich aufgrund der Aufnahme radioaktiver Stoffe in den Körper im Folgezeitraum
  • Definitionen verschiedener Halbwertszeiten
    • „physikalische Halbwertszeit“: Zeit, in der von einer vorhandenen Menge radioaktiver Atomkerne die Hälfte zerfällt
    • „biologische Halbwertszeit“: Zeit, in der ein Stoff nach Aufnahme in den Körper durch Stoffwechsel- und Ausscheidungsvorgänge zur Hälfte wieder ausgeschieden wird
    • „effektive Halbwertszeit“: Zeit, in der die Aktivität eines inkorporierten radioaktiven Stoffes im Körper durch physikalischen Zerfall und Ausscheidungsprozesse auf die Hälfte abgefallen ist

Strahlenexpositionsarten

  • externe Exposition durch ionisierende Strahlung
    • Strahlungseintritt von außen
    • Teil- oder Ganzkörperexposition, abhängig von bestrahltem Körpervolumen oder exponierter Körperfläche
    • „akutes Strahlensyndrom“ (akute Strahlenkrankheit): Synonym für frühe Folgen einer hohen Ganzkörperexposition
    • Notwendigkeit lebensrettende Sofortmaßnahmen bei vorliegender/vermuteter Kontamination (CAVE: Eigenschutz)
    • Notwendigkeit einer angemessenen, möglichst vollständigen Dekontamination
  • interne Exposition nach Inkorporation radioaktiver Stoffe (Inhalation, Ingestion oder Aufnahme über Wunde/intakte Haut)
    • Gefahrenpotenzial abhängig von
      • Radionuklid, Aktivität, Strahlungsart, physikalische Halbwertszeit
      • Art der chemischen Verbindung (bei flüchtigen Verbindungen Gas- oder Aerosolform bei festen Verbindungen Partikelgröße und Löslichkeit und bei Flüssigkeiten Hautresorbierbarkeit)
      • bei Inkorporation durch Inhalation von Atemrate und Atemzugvolumen
      • bei Ingestion vom Füllungszustand des Magen-Darm-Trakts
      • bei Aufnahme über Wunden von Art und Größe der Verletzung
      • Verteilung der Radionuklide im Körper
      • Art und Geschwindigkeit der Ausscheidung des inkorporierten radioaktiven Stoffes (Niere/Darm, biologische HWZ)

Unfallszenarien

  • Vorfälle/Notfälle in kerntechnischen Anlagen
    • stark variierende Betroffenenzahlen in Relation zum
      • Reaktor-Beladungszustand
      • Ablauf des Unfalls
      • Abstand bewohnter Gebiete und deren Bevölkerungsdichte
  • Umgang mit radioaktiven Stoffen außerhalb kerntechnischer Anlagen
    • Industrie und Technik
      • zerstörungsfreie Werkstoffprüfung
      • industrielle Bestrahlungseinrichtungen (Sterilisation etc.)
      • Messen von Füllstand, Durchfluss, Dicke oder Massenbelegung
      • Uranhexafluorid (UF6) als Bestandteil des Brennstoffkreislaufes
      • tritiumaktivierte Leuchtfarben (z.B. in Uhren)
      • Ionisationsrauchmelder
    • Medizin und Wissenschaft
      • Teilkörperbestrahlungen durch Röntgenstrahlung oder Quellen bei geringem Abstand oder fokussiertem Strahl
      • Ganzkörperbestrahlung durch Quellen oder Beschleuniger in größerem Abstand
      • Kontamination durch radioaktive Stoffe
  • Transport von radioaktiven Stoffen
  • terroristische oder anderweitig motivierte Freisetzung von radioaktiven Stoffen oder Exposition durch ionisierende Strahlung

Schätzungs-Kennzahlen an Betroffenen für verschiedene Szenarien

Szenarioleichtes Strahlensyndromschweres Strahlensyndromlokales Strahlensyndromkombiniertes TraumaKontaminationInkorporation
Unfall in einem deutschen KKW vor
Brennelementfreiheit
100 – 100010 -10010 – 10010 – 100200.0001.000.000
Unfall in einem KKW im grenznahen Ausland50.000 – 200.000100.000 – 1.000.000
Unfall in einem KKW im übrigen Europa10.000 – 50.000
Unfall in kerntechnischer Anlage oder Einrichtung, die kein KKW ist1 – 101 – 101 – 101 – 101 – 101 – 10
Transportunfall1 – 101 – 101 – 101 – 101 – 101 – 10
Unfälle im Zusammenhang mit dem Umgang mit radioaktiven Stoffen1 – 101 – 101 – 101 – 101 – 101 – 10
terroristische oder anderweitig motivierte Straftatbis 1.0001 – 1010 – 10010 – 100bis 1.000bis 1.000
Satellitenabsturz1 – 51 – 51 – 51 – 5

Eigenschutz und persönliche Schutzausrüstung

  • „4As“ unter Berücksichtigung der GAMS-Regel
    • Abschalten von stromführenden Geräten wie Röntgenröhren/Beschleunigern
    • Abstand halten (Lage der Strahlenquelle beachten)
    • Aufenthaltszeit im Gefahrenbereich so gering wie möglich (auch bei lebensrettende Sofortmaßnahmen)
    • (vorhandene) Abschirmungen (Mauern, Geräteblöcke etc.) nutzen
  • persönliche Schutzausrüstungen (PSA)
    • PSA-Ausstattung und -Einkleiden nach lokalen/regionalen Standards
    • CAVE: PSA schützt vor Kontamination, aber nicht vor externer Gammastrahlung
    • PSA-Stufe 1 für präklinische Patient*innen-Versorgung i.d.R. ausreichend
      • FFP2-Maske oder höhere Schutzklasse
      • Ganzkörperschutzanzug (z.B. aus Kunststoffvlies)
      • Einmal-Nitrilhandschuhe (doppeltes Paar)
      • stabile, rutschsichere Überschuhe bzw. unter Feldbedingungen festes, flüssigkeitsdichtes Schuhwerk

Symptomatik/Strahlenwirkung

  • Ionisations- und/oder Anregungsvorgängen in essenziellen Biomolekülen (Veränderung molekularer Strukturen wie der DNA)
  • somatische Strahlenwirkung (auf die Körperzellen des exponierten Organismus selbst bezogen)
  • genetische (vererbbare, hereditäre) Strahlenwirkung (betreffen bestrahlte Keimzellen des Individuums; ggf. auch die Nachkommenschaft betreffend)
  • (akutes) Strahlensyndrom
  • Haarausfall (temporär oder dauerhaft)
  • Fertilitätsstörungen
  • maligne/benigne Tumore
  • Leukämie
  • Erbkrankheiten
  • Katarakt (Linsentrübung des Auges)
  • Herz-Kreislauf-Probleme

(akutes) Strahlensyndrom

  • je höher die Ganzkörperdosis ist, desto mehr Organsysteme werden geschädigt
  • primär hämatologische Manifestation (> 0,5 – 1 Gy), dann Beteiligung des gastrointestinalen Systems (> 5 Gy) und zuletzt zerebrovaskuläre Manifestation (> 20 Gy)
  • Phasen des akuten Strahlensyndroms
    • Prodromalphase (erste 48 h)
      • Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe bis Ileus & abdominelle Krämpfe, Erythem, Temperaturanstieg, Blutdruckabfall & neurolog. Symptome
    • Latenzphase
      • symptomverminderte oder symptomlose Phase (Dauer Latenzphase sinkt mit steigenden Dosen)
    • Manifestationsphase
      • schwere Immunsuppression
      • wenn Stadium überlebt wird, ist Genesung sehr wahrscheinlich
    • Erholungsphase oder Tod
Quelle: https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2022/2022-07-08_Empf_Strahlennotfallhandbuch.pdf?__blob=publicationFile
  • Pathophysiologie des kutanen Syndroms
    • zytokinvermittelte antiproliferative und lokale/systemische Entzündungsreaktionen
    • Schäden der Mikrozirkulation
    • erythematöse Veränderungen und Ödeme

Strahlenanamnese und Dokumentation

  • Strahlenquelle, Strahlenart, Energie, Intensität, Aktivität, Betriebsart etc.
  • Strahlungsfeld (Art und Umfang der Abschirmung, Streu- und Sekundärstrahlung)
  • Abstand und Position der exponierten Person zur Strahlenquelle
  • Dauer der Bestrahlung, Dosisverteilung auf der Körperoberfläche
  • ggf. Dosimeterart und Dosimeteranordnung am Körper
  • ggf. Personendosis, Schätzwert der Körperdosis
  • zusätzlich bei Kontamination und Inkorporation
    • Nuklidart und Eigenschaft
    • chemische Verbindung und Löslichkeit
    • kontaminierter Körperteil
    • Fläche der Kontamination in Quadratzentimeter
    • flächenbezogene Aktivität
    • Nuklidzusammensetzung
    • resultierende Hautdosen
    • ggf. Inkorporationsmechanismen

Therapie

  • radiologische Sichtung erfolgt zu späterem Zeitpunkt
  • Vorgehen entspricht Vorgehensweise bei allen anderen Notfall- und Katastrophensituationen (Eigenschutz darf nicht vernachlässigt werden)
  • Ziel der Sichtung bei MANV-CBRN-Lage: bestmögliche Rettung und med. Versorgung bei minimierter Gefährdung der Einsatzkräfte

lebensrettende Sofortmaßnahmen zur Erstversorgung von Strahlennotfallpatient*innen

  • schnelle Rettung aus Gefahrenbereich
  • nach medizinischer Sichtung ggf. Trauma-Check nach c-ABCDE-Prinzip ohne Zeitverlust
  • Grobdekontamination
    • vor Entfernen der Kleidung Aufsetzen einer partikelfiltrierende Halbmaske (FFP-Maske) möglichst mit Ausatemventil
    • kontaminierte Kleidung entfernen
    • Wunden wasserdicht abkleben
    • Grobdekontamination der Haut durch Abwaschen mit lauwarmem Wasser (soweit möglich und medizinisch vertretbar vor Transport)
    • CAVE: mögliche Unterkühlung sowie Wärmestau bei Verwendung von Plastikfolie
  • Erstversorgung von Wunden
    • Spülung der Wunden mit steriler Kochsalzlösung/Elektrolyt-Lösungen (Spot-Dekontamination; ggf. alternativ Leitungswasser)
    • offene Wunden, soweit möglich, wasserdicht verbinden, zur Verhinderung nachträglicher Inkorporation
    • Ruhigstellung zur Verhinderung der Ausbreitung einer Wundkontamination
    • ggf. zeitnahe Antidot-Gabe je nach inkorporiertem Radionuklid

Dekontamination

  • CAVE: Dekontamination darf dringliche lebenserhaltende Maßnahmen nicht verzögern
  • Haare mit nach hinten geneigtem Kopf von Helfenden mit Handschuhen waschen und gut nachspülen (kein kontaminiertes Wasser ins Gesicht oder die Ohren)
  • Augenspülung mit geeigneter Spülflüssigkeit vom inneren Augenwinkel nach außen
  • Munddekontamination durch Ausspülen mit reichlich Wasser
  • Nasendekontamination durch Schnäuzen der Nase
  • Ohrendekontamination durch Ohrspülung oder Austupfen mit Wasser
  • ggf. gezieltes Entfernen von Kontaminationen in Hautfalten, im Nagelfalz oder unter den Fingernägeln
  • Wunddekontamination
    • Abklärung Indikation zur dringlichen chirurgischen Intervention
    • Schnelldekontamination der an die Wunde angrenzenden Haut mit Feuchttüchern
    • Abkleben der Wundränder
    • vorsichtige Nassdekontamination mit Sprühdekontamination (NaCl, alternativ Wasser)
    • Abdecken der Wunde und Entfernung der Abklebung
    • Suche nach Fremdkörpern
  • unspez. Dekorporationsmaßnahmen
    • ggf. resorptionsmindernde Substanzen (z.B. Aktivkohle) bei Inkorporation über Magen-Darmtrakt
    • ausreichende, ggf. gesteigerte Flüssigkeitszufuhr bei nierengängigen Substanzen
    • keine Emetika-Gabe
  • spez. Dekorporationsmaßnahmen
    • Eine Liste mit spezifischen Medikamenten für die Dekorporation sind im Handbuch auf den Seiten 66 – 71 zu finden.

weitere Therapien im Verlauf

  • Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution
  • antimikrobielle Therapie
  • antidiarrhöische Medikamente (Loperamid) & Antiemetika bei GI-Symptomen

Transport kontaminierter Personen

  • medizinische Versorgung hat immer Vorrang vor Kontamination des Fahrzeuges
  • Transportorganisation von im Strahlenschutz fachkundigem Personal
  • Fahrzeuge nutzen, die zum Schutz des/der Fahrer*in Trennung zw. Fahrer- und Patientenbereich haben
  • PSA-Auswahl so treffen, dass Führen des Kraftfahrzeuges nicht beeinträchtigt ist
  • kontaminierte Personen vor Transport, wenn möglich, entkleiden und mit leichter Schutzkleidung wie Papieroveralls, Handschuhen und Überschuhen ausstatten
    • CAVE: Wärmeerhalt auch während des Transportes
  • Meldung an Leitstelle und Zielklinik mit
    • Anzahl der Personen
    • medizinische Dringlichkeit
    • Kontaminationsniveau
    • Risiko und Potenzial einer Kontaminationsverschleppung
    • Gefährdungspotenzial
    • mit Strahlenschutzbegleitung ja/nein
  • Transportfahrzeug muss nach Transport dekontaminiert oder ggf. sogar als radioaktiver Abfall entsorgt werden
  • ggf. kontaminierte Gegenstände (Trage, EKG etc.) vor erneutem Gebrauch auf Kontaminationsfreiheit überprüfen
Transport vonkontaminiertleicht verletztschwer verletzt
EinzelpersonenPersonentransporterKTWRTW
mehreren PersonenPersonentransporter/KleinbusKTWRTW
MassenanfallBusKTWRTW
Entscheidungsmatrix Fahrzeugauswahl
Published inLeitlinien kompakt

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