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30.09. – Tag der Legasthenie und Dyskalkulie

Heute gibt es einen kleinen „Im Notfall Psychiatrie“-Exkurs, der notfallmedizinisch quasi keine Relevanz hat. Seit 2016 findet jedes Jahr am 30. September der vom Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (BVL) und der Deutschen Kinderhilfe initiierte Tag der Legasthenie und Dyskalkulie statt. Ziel des Tages der Legasthenie und Dyskalkulie ist es, auf diese beiden, weit verbreiteten Erkrankungen hinzuweisen. Aus diesem Grund gibt es heute bei FOAMio den Exkurs in die nicht-notfallmedizinische Psychiatrie mit einem kleinen Überblick zur Lernentwicklungsstörung mit Lesebeeinträchtigung oder mit Minderleistung im Bereich Mathematik.

Beide Lernentwicklungsstörungen gehören gemäß ICD-11 in die Gruppe der „neuronale Entwicklungsstörungen“ bzw. der umschriebenen Entwicklungsstörungen. Die Entwicklungsstörungen zeichnen sich durch folgende Charakteristika aus:

  • Beginn in früher Kindheit
  • zuvor keine Phase einer normalen Entwicklung im jeweiligen Störungsbereich
  • enge Kopplung mit biologischer Reifung des ZNS
  • keine Folge einer Intelligenzminderung
  • kontinuierlicher Verlauf, der nicht durch Phasen altersgemäßer Entwicklung gekennzeichnet (keine Remissionen und Rezidive)
  • neurobiologische Korrelate in der Gehirnentwicklung
  • häufig Abnahme oder Veränderung der Kernsymptomatik beim Älterwerden
  • häufig komorbid psychische Störungen, die die gesamte Entwicklung nachhaltig beeinflussen
  • erhebliche Beeinträchtigung der psychosozialen & emotionalen Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen

Bei beiden Lernentwicklungsstörungen handelt es sich gemäß ICD-11 der WHO um ein Krankheitsbild, welches durch „erhebliche und anhaltende Schwierigkeiten beim Erlernen akademischer Fertigkeiten gekennzeichnet, zu denen Lesen, Schreiben oder Rechnen gehören können“. Bei Betroffenen liegen die Leistungen bei den jeweiligen Fertigkeiten deutlich unter der für das Alter und das allgemeine Niveau zu erwartende Leistungsfähigkeit.

Lernentwicklungsstörungen zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, das die ersten Probleme in den ersten Schuljahren auftreten. Des Weiteren müssen „Störung der intellektuellen Entwicklung, eine sensorische Beeinträchtigung (Seh- oder Hörvermögen), eine neurologische oder motorische Störung, fehlende Bildungsmöglichkeiten, mangelnde Beherrschung der Unterrichtssprache oder psychosoziale Widrigkeiten“ ausgeschlossen sein. I.d.R. gibt es zusätzlich auch Probleme im Arbeitsgedächtnis, v.a. der „phonologischen Schleife“ sowie der damit eng verbundenen „zentralen Exekutive“, die häufig stark wahrnehmbar sind bei Aufgaben mit hohen Ansprüchen an beide Funktionen.

Epidemiologie

Die Gesamtgruppe der Patient*innen mit Entwicklungsstörungen macht laut einiger Arbeiten bis zu 30 % aus, wobei zu betonen ist, dass diese Schätzungen stark abhängig sind vom diagnostischen Verfahren, der Definition und transkulturellen Besonderheiten. Bei den Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten geht man von einer Prävalenz von 10 – 15 % aus und die Diagnosestellung erfolgt i.d.R. im Alter zwischen 9 und 12 Jahren.

Betrachtet man die Prävalenz der Lese- & Rechtschreibstörungen so findet man oftmals Werte zwischen 4 – 7 %, in manchen Studien sogar ca. 12 – 15 %. Jungen sind in allen Arbeiten häufiger betroffen als Mädchen (1 Mädchen vs. 2 – 3 Jungen), wobei man beachten muss, dass die Schätzungen zum Verhältnis der Geschlechter stark schwanken. Aber i.d.R. kommen auf ein betroffenes Mädchen 1,2 – 4 Jungen. Unterscheidet man die Lese- & Rechtschreibstörungen in ihre Unterformen so findet man folgende Prävalenzen:

  • kombinierte Lese- und Rechtschreib-Störung (8 – 10 %)
  • isolierte Rechtschreibstörung (4 – 5 %)
  • zur isolierten Lesestörung liegen keine Zahlen vor, da diese erst mit dem ICD-11 gelistet wurde, sie tritt aber laut Schätzung vergleichbar häufig vor

Die Rechenstörungen hat eine geschätzte Prävalenz von ca. 2 – 8 %, wobei Mädchen in den meisten Studien stärker vertreten sind. Bei der Verwendung eines doppelten Diskrepanzkriteriums von 1,5 SD sind Mädchen doppelt so häufig betroffen wie Jungen.

Epidemiologisch ist es zusätzlich wichtig zu betonen, dass Rechenstörungen und Lese- & Rechtschreibstörungen häufig auch jeweils komorbid vorliegen. Da Rechenstörungen seltener sind, ist die kormorbide Lese- & Rechtschreibstörungen natürlich deutlich seltenen. Andersherum haben aber ca. 4,5 % der Kinder mit einer Legasthenie nicht selten eine Rechenstörungen und in 27,3 % der Fälle ein unterdurchschnittliche Rechenleistungen.

Insgesamt liegen bei ca. 35 – 43 % der von einer Lernentwicklungsstörung Betroffenen eine zusätzliche psychische Erkrankung vor (ca. 15 % in der gleichaltrigen, gesunden Bevölkerung). Sehr häufig ist eine Aufmerksamkeitsstörung als Komorbidität vorhanden.

Legasthenie

Die umgangssprachlich als „Legasthenie“ bekannte Erkrankung ist bereit im 19. Jahrhundert in Großbrittanien von Augenärzten als „kongenitale Wortblindheit“ beschrieben worden und lässt sich in drei Formen unterscheiden. Diese sind:

  • Lernentwicklungsstörung mit Lesebeeinträchtigung
  • Lernentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung im schriftlichen Ausdruck
  • Lese-Rechtschreibstörung (Kombination aus beiden Einzelformen)

Bei der Legasthenie kommt es zu einer deutlichen Beeinträchtigung von Lesegeschwindigkeit, Lesegenauigkeit und Leseverständnis sowie einer erhöhten Zahl an Rechtschreibfehlern trotz regelmäßigem Unterricht im Vergleich zu Gleichaltrigen bzw. Personen in der gleichen Klassenstufe. Neben der Gliederung in die o.g. drei Formen gibt es zusätzlich eine Einteilung in drei Schweregrade, welche aber nicht codiert werden:

  • leichtgradig: einzelne, aber noch kompensierbare Schwierigkeiten in ein oder zwei Lernbereichen mit ausreichenden Unterstützungsmaßnahmen
  • mittelgradig: deutliche Schwierigkeiten in ein oder zwei Lernbereichen trotz intensiver Förderung
  • schwergradig: nur eingeschränkte Bewältigung schriftsprachlicher Anforderungen im Alltag, welche nicht ohne intensive Hilfen und länger andauernde Unterstützungsmaßnahmen erfüllt werden können

Die alternative Bezeichnung „Dyslexia“ ist vor allem durch Probleme beim Worterkennen, bei der Graphem-Phonem-Zuordnung und durch eine Rechtschreibstörung gekennzeichnet.

Alle Formen der Legasthenie beeinflussen die schulische, psychische und soziale Entwicklung der Betroffenen nachhaltig. Betrachtet man die Prävalenzen im Altersverlauf, so stellt man fest, dass die Lese- & Rechtschreibstörungen (LRS) eine hohe Entwicklungsstabilität hat und somit die landläufige Meinung, dass diese sich „auswachse“ und spätestens mit Einsetzen der Pubertät die Schwierigkeiten deutlich zurückgehen. Typische gesellschaftliche und bildungstechnische Folgen der LRS sind ein wesentlich geringeres Schulabschlussniveau, ein deutlich niedrigeres Berufsausbildungsniveau und eine erhöhte Rate der Arbeitslosigkeit. Die problematische sozialekritische Komponente zeigt sich vor allem darin, dass ein Prädiktor für einen positiven Verlauf neben der Intelligenz der Kinder und der Ausprägung der Erkrankung der sozioökonomische Status ist, da intensive Förderung sehr teuer ist. Zusätzlich haben ggf. zusätzlich auftretende psychische Störungen einen Einfluss auf den Verlauf, v.a. impulsive und dissoziale Verhaltensauffälligkeiten.

Ätiologie & Pathologie

Die genetischen Faktoren haben als mögliche Ursache einen besonders großen Einfluss bzgl. der Ausbildung einer LRS. Der genetische Einfluss ist vor allem bei den neurophysiologischen Prozesse der auditiven und visuellen Informationsverarbeitung bemerkbar. Familienuntersuchungen zeigten auf, dass sehr wahrscheinlich von einem polygenen, überwiegend autosomal-dominanten Erbgang mit relevant großen geschlechtsspezifischen Penetranz ausgegangen werden muss. 45 – 55 % der Geschwister und 22 – 32 % der Eltern Betroffener haben ebenfalls eine LRS. In Zwillingsstudien konnte zusätzlich gezeigt werden, dass es eine signifikant erhöhte Konkordanz bei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen gibt. Kandidatengene erklären ca. 2 – 4 % der Varianz der Lese- und Rechtschreibstörung.

Hirnanatomisch, neurohistologisch und neurobiologisch sind vor allem die folgenden Auffälligkeiten bei Menschen mit einer Lese- & Rechtschreibstörung beobachten (CAVE: Befunde konnten teils nicht eindeutig repliziert werden):

  • abnorme Zellgruppen betont linkshemisphärisch
  • veränderte kortikale Architektur
  • abnorme Gefäßbildungen (v.a. in den zerebralen Netzwerken des Gyrus angularis und Gyrus supramarginalis linkshemisphärisch)
  • abnorme zerebrale Symmetrieverhältnisse in für die sprachliche Informationsverarbeitung relevanten Hirnregionen (Planum temporale)
  • Deviationen des Corpus callosum
  • Minderaktivierungen bzw. Störungen zentralnervöser Verarbeitung in temporo-parietalen und temporo-okzipitalen zerebralen Regionen
  • „geschwächte“ funktionelle Verbindung zwischen anterioren und posterioren Spracharealen (z.B. Wernicke- & Broca-Region)
  • Abweichungen in der frühen Phase der visuellen Schriftverarbeitung, der auditorischen Lautverarbeitung oder der semantischen Prozessierung
  • Störung des intra- und interhemisphärischen Informationsflusses
  • Beeinträchtigungen der sequenziellen Reizverarbeitung

Bei 60 – 80 % der betroffenen Personen konnten Sprachentwicklungsstörungen wie Wortfindungsstörungen, Dysgrammatismus, Schwächen im sprachlichen Gedächtnis sowie bei 5 – 10 % Störungen der visuellen Informationsverarbeitung beobachtet werden.

Desweiteren werden relevante Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf die (Ausbildung der ) LRS haben, darunter z.B. familiäres Umfeld mit geringerer Anregung von Sprachfertigkeiten und wenigen Schriftsprachanlässen sowie überfordernder Erstleseunterricht und ein falscher Erstschreiblehrgang, also „Schreiben, wie man es hört“. Hinweise bzgl. der Ursächlichkeit von prä­- und perinataler Schädigungen sind bis jetzt kaum empirisch belegt.

Diagnosekriterien & Symptomatik

Die Lernentwicklungsstörung mit Lesebeeinträchtigung zeigt sich durch „erhebliche und anhaltende Schwierigkeiten beim Erlernen akademischer Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Lesen“, dazu zählen die Genauigkeit beim Lesen von Wörtern, die Leseflüssigkeit und das Leseverständnis. Wie oben schon erwähnt muss die Einschränkung deutlich unter der für das Alter und das allgemeine Niveau zu erwartende Leistungsfähigkeit liegen. Aus diesen Einschränkungen müssen zusätzlich erhebliche Beeinträchtigung der akademischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen resultieren.

Bei der Lernentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung im schriftlichen Ausdruck handelt es sich um „erhebliche und anhaltende Schwierigkeiten beim Erlernen akademischer Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Schreiben“, also Probleme bei der korrekten Rechtschreibung, der korrekten Grammatik und der Zeichensetzung sowie Organisation und Kohärenz der schriftlichen Gedanken. Auch hier müssen diesen Einschränkungen zusätzlich erhebliche Beeinträchtigung der akademischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen resultieren und die Einschränkung deutlich unter der für das Alter und das allgemeine Niveau zu erwartende Leistungsfähigkeit liegen.

Typische Symptome beider Formen sind:

  • Anzeichen beim Lesen
    • Auslassen, Ersetzen, Erweitern oder Vergessen von Buchstaben, Wortteilen oder ganzen Wörtern
    • Reversionen (Verdrehungen von Buchstaben im Wort: b-d, p-q)
    • Reihenfolgefehler (Umstellungen von Buchstaben im Wort)
    • eingeschränkte Lautverschmelzung
    • langsames und ungenaues Lesen, oft ohne genaues Verstehen des Inhaltes (ungenaues Phrasieren)
    • dysrhythmisches Lesen ohne Betonung (monotones Vortragen)
    • zögerliches Lesen, v.a. auch mit Verlieren der Zeile bzw. Stocken im Text
  • Anzeichen beim Schreiben
    • Reversionen (Verdrehungen von Buchstaben im Wort: b-d, p-q)
    • Reihenfolgefehler (Umstellungen von Buchstaben im Wort)
    • zögerliches Schreiben
    • Schwierigkeiten bei der Groß- und Kleinschreibung
    • Schreibung von Konsonanten im Wortstamm (z.B. Tane statt Tanne)
    • Umlaut- & Auslautschreibung (z.B. Lant statt Land oder Beume anstatt Bäume)
    • Schreibung von Konsonantenhäufung (z.B. schpitz statt spitz)
    • fehlerhafte Dehnung, Dopplung und Schärfung
    • hohe Fehlerzahl in Grammatik und Zeichensetzung bei Diktaten und Abschreiben von Texten
    • Fehlerkonstanz (Wörter werden trotz vielfältiger Übung wieder unterschiedlich fehlerhaft – geschrieben)
  • Probleme in anderen Fächern
    • Schwierigkeiten in allen Schulfächern, wo Lesen und Schreiben notwendig ist
    • Schwierigkeiten bei Fremdsprachen oder Mathematik (v.a. bei Textaufgaben)
  • andere Symptome
    • Erleben von ständigen Misserfolgen mit konsekutiver Resignation bzw. Lernunlust und vermehrter Traurigkeit
    • Gefühl der Minderwertigkeit und Beeinträchtigung im Selbstbewusstsein
    • Erleben von Mobbing
    • Versagensängste bis hin zur Schulangst
    • Kopfweh und Bauchschmerzen vor Klassenarbeiten
    • ggf. auffälliges, aggressives Verhalten

Die Symptome bzw. Fehlerart können unter therapeutischen Gesichtspunkten in folgende Gruppen eingeteilt werden:

  • Phonemfehler (Verstöße gegen lautgetreue Schreibung)
  • Regelfehler (Verstöße gegen regelhafte Abweichungen von lautgetreuer Schreibung)
  • Speicher-/Merkfehler (Verstöße gegen regelhafte Abweichungen, v.a. bei linguistischen Ausnahmeregelungen)
  • Restfehler

Diagnostik

Die Diagnosestellung fußt auf psychometrischen Leistungstests, welche die Lesegeschwindigkeit, Lesefehler und Leseverständnis sowie Rechtschreibungsfehler beim Wort- und/oder Textschreiben überprüfen. Hierbei kommt ein multiaxiales Diagnoseschema mit 6 Achsen zu Einsatz, welches folgende Aspekte berücksichtigt:

  • Achse 1: Vorliegen psychische Erkrankung? (Screening AHDS, Depression, Angststörung etc.)
  • Achse 2: Vorliegenumschriebene Entwicklungsstörung?
  • Achse 3: Höhe des Intelligenzniveaus? (Durchführung Intelligenztest)
  • Achse 4: Vorliegen nicht-psychischer Erkrankungen? (Durchführung Hör- & Sehtests sowie oftmals Ausschluss Epilepsie und/oder SHT)
  • Achse 5: aktuelle abnorme psychosoziale Umstände?
  • Achse 6: Einschätzung, wie gut psychosoziale Anpassung aktuell gelingt (Einschätzung wie sehr Störung das Leben des Kindes beeinflusst)

Zusätzlich erfolgt eine Anamnese hinsichtlich der Familiengeschichte, v.a. ob erbliche Lese-Rechtschreibstörung vorliegen. I.d.R. werden auch Berichte von Seiten der Schule eingefordert, um den aktuellen Leistungsstand und die Lernentwicklung einschätzen zu können.

Es gilt aber zu betonen, dass das Vorliegen anderer Erkrankungen als Komorbidität die Diagnose der Lese- und/oder Rechtsschreibstörung nicht ausschließt. Komorbide Erkrankungen treten in bis zu 40 % der Fälle auf und haben ggf. immensen Einfluss auf die Erkrankung. Typische Komorbiditäten sind z.B.

  • hyperkinetische Störung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit- & Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
  • Angststörung
  • Depression
  • Rechenstörung
  • auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung
  • expressive und rezeptive Sprachstörung

Während der gesamten Diagnostik sind folgende Punkte zu beachten:

  • Altersdiskrepanz
  • Klassennormdiskrepanz
  • IQ-Diskrepanz

Ausschlussdiagnostik bei Seh- und Hörstörungen (Differentialdiagnostik)

Die Differentialdiagnostik beeinhaltet den Ausschluss von folgenden Phänomenen:

  • Störung der intellektuellen Entwicklung
  • sensorische Beeinträchtigungen (Seh- oder Hörvermögen)
  • neurologische oder motorische Störungen
  • mangelnde Verfügbarkeit von Bildung
  • mangelnde Beherrschung der Unterrichtssprache
  • psychosoziale Widrigkeiten

Vor allem die sensorischen Beeinträchtigungen sind genau zu überprüfen. Hier ist zwischen okulären Lesestörungen und peripheren Hörstörungen zu unterscheiden. Okulären Lesestörungen zeigen sich vor allem durch nicht korrigierte optische oder binokulare Probleme, welche ein unscharfes Bild, rasche Ermüdung, Augenbrennen und Kopfschmerzen bei längerem Lesen zur Folge haben, oder um sensorische Defizite wie eine Visusminderung oder einen Gesichtsfeldausfall bei Augen- und Sehbahnerkrankungen, wobei beide nicht durch übliche Brillen zu korrigieren sind. Die Zunahme der Beschwerden im Laufe des Schultags ist typisch. Ursächlich für okuläre Lesestörungen sind

  • Refraktionsanomalien (Brechungsfehler), v.a. die Hyperopie (Weitsichtigkeit)
  • latentes und intermittierendes Schielen
  • Hypoakkommodation (verminderte Naheinstellungsfähigkeit
  • Konvergenzschwächen

Zu betonen ist aber, dass Hypoakkommodation, Refraktionsanomalien und Augenfehlstellungen bei über 90 % der Betroffenen wirksam behandelt werden können.

Periphere Hörstörungen werden aufgeteilt in Schallleitungsschwerhörigkeit (gestörte Schallausbreitung), Schallempfindungsschwerhörigkeit (gestörte Reizaufnahme & –umwandlung) sowie die kombinierte Schwerhörigkeit. Die WHO teilt das Ausmaß der Hörstörung in die folgenden Grade ein:

  • geringgradig (Hörverlust 25 – 40 dB)
  • mittelgradig (Hörverlust 41 – 60d B)
  • hochgradig (Hörverlust 61 – 80 dB)
  • Hörreste/Surditas (Hörverlust > 80 dB)

Darüber hinaus kann es durch Störung der Umsetzung der aufgenommenen Höreindrücke zu auditiven Verarbeitungs- (Hirnstammniveau) und Wahrnehmungsstörungen kommen. Ein Hörverlust im Kindesalter ist oft mit einer Sprachentwicklungsstörung vergesellschaftet, stellt aber mindestens einen relevanten Risikofaktor für selbige dar. Vor allem Störungen der Frequenzen für die Hauptsprachbereiche (500, 1000, 2000 & 4000 Hz) sorgen für Probleme beim Spracherwerb bzw. der Sprachdiskrimination, da die meisten Vokale und Konsonanten sich auf diesem Frequenzspektrum befinden. Weiter ist auch die beidohrige Schwerhörigkeit von großer Relevanz. Die einseitige Schwerhörigkeit hat keinen signifikanten Einfluss auf Probleme bei Sprachverstehen ggü. Menschen, die mit beiden Ohren hören können. Zuletzt hat auch das Ausmaß der Hörstörung, vor allem die Dauer der Hörprobleme bzw. des Hörverlusts.

Therapie

Die Therapie einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung hat sich leitlinienkonform an den Symptomen der Lese- und / oder Rechtschreibstörung und deren Ausprägung zu orientieren. Im Mittelpunkt stehen Interventionsmaßnahmen zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistungen wie Übungen zur Graphem-Phonem und Phonem-Graphem-Korrespondenz, Segmentierung einzelner Wörter in ihre Phoneme, Morpheme, Silben sowie Onset & Silbenreim und Verbinden von Phonemen zu einem Wort. Alle Fördermaßnahmen sollten bereits im ersten Schuljahr begonnen werden und in Einzelsitzungen oder Kleingruppen (≤ 5 Personen) erfolgen. Die Förderung selbst sollte so lange andauern bis Lese- und Rechtschreibfähigkeit erreicht wurde, welche eine altersgerechte Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglicht (CAVE: nur wenn hinreichende Aussicht auf bedeutsame Veränderung besteht). Zusätzlich sollte min. jährlich eine Verlaufsuntersuchung zur Indikationsüberprüfung erfolgen, hierbei soll auch im Verlauf geprüft werden, ob ggf. ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht.

Ergänzend sind systematische Übungen zu Sätzen und Texten oder Übungen zum Extrahieren und Zusammenfassen von Informationen aus Texten sowie Verknüpfen des Gelesenen zu bereits vorhandenem Wissen üblich. Auch Rechtschreibtrainings mit Instruktionen zum Aufbau orthographischen Regelwissens sind von Relevanz, genauso wie Übungen zur visuellen Differenzierungsfähigkeit und Blicksteuerung sowie auditive, nichtsprachliche Tondiskriminations-, -differenzierungs und -wahrnehmungsübungen. Des weiteren können Betroffen mit Lesestörung durch das Lesen von Texten mit vergrößerter Schrift und breiteren Buchstaben-, Wort- und Zeilenabständen Verbesserungen der Leseleistungen erzielen.

Lesetrainings gemäß der Ganzwortmethode sind gemäß Leitlinie nicht einzusetzen, genauso wie Therapiemaßnahmen, die ausschließlich Textverständnisstrategien behandeln, Phonologietrainings, Interventionen zur auditiven/visuellen/audiovisuellen Wahrnehmung und Verarbeitung, Interventionen zur neuropsychologischen Hemisphärenstimulation, Aufmerksamkeitstrainings sowie Irlen-Linsen oder vergleichbare Farbfolien. Folgende weitere Maßnahmen zeigten bei Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung ebenfalls keine Wirksamkeit bzw. sind nicht indiziert:

  • medikamentöse Behandlung mit Piracetam
  • alternativmedizinische Methoden (Homöopathie, Akupressur, Osteopathie und Kinesiologie)
  • Nahrungsergänzungsmittel
  • motorische Übungen zur Beseitigung eines persistierenden asymmetrisch tonischen Nackenreflexes (ATNR) bei Kinder & Jugendlichen mit LRS und persistierendem ATNR
  • visuelle Biofeedbacks
  • monokulare Okklusion
  • Prismenbrillen

Dyskalkulie

Die zweite Lernentwicklungsstörung ist die Dyskalkulie, also die Rechenschwäche, welche mit einer komplexen kognitiven Beeinträchtigung in den Bereichen Zahlen- und Mengenverständnis einhergeht, und nicht durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder unangemessene Beschulung begründbar ist.

Ätiologie & Pathologie

Wie bei der Legasthenie sind sehr wahrscheinlich auch bei der Lernentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung in Mathematik genetische Disposition und veränderte Hirnfunktionen ursächlich. Auch hier zeigten Familienuntersuchungen, dass Rechenstörungen familiär gehäuft auftreten. Zusätzlich untermalen Ergebnisse aus Zwillingsstudien und Untersuchungen von Frauen mit einem Turner-Syndrom, bei welchen überzufällig häufig Rechenschwächen beobachtet wurden, die große Revelanz der Genetik bei der Ätiologie. In Zahlen ausgdrückt bedeutet dies, dass, sofern bereits ein Geschwisterteil eine Dyskalkulie hat, das Risiko für eine solche um das 5- bis 10-fache erhöht ist (bei Zwillingen sogar ca. 12-fach erhöht) und ca. 40 % der Rechenprobleme sich über die Genetik erklären lassen.

Hirnanatomisch, neurohistologisch und neurobiologisch sind vor allem die folgenden Auffälligkeiten bei Menschen mit einer Dyskalkulie beobachten (CAVE: Befunde konnten teils nicht eindeutig repliziert werden):

  • verzögerte und verminderte Aktivierungsmuster in Regionen des parietalen Kortex der linken und rechten Hemisphäre, v.a. des intraparietalen Sulcus (vermutlich assoziiert mit der Verarbeitung von Zahlen und Mengen), sowie in okzipitalen Netzwerke für Rechenoperationen
  • abweichende Aktivierungsmuster kortikaler und subkortikaler Gebiete
  • verringertes Volumen an grauer Substanz in domänenspezifischen Arealen in und um den intraparietalen Sulkus sowie frontalen und subkortikalen Bereichen

Diagnostik

Diagnostisch stehen vor allem psychometrische Tests zur Erfassung der Mathematikleistung, der Leistung des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses und der exekutiven Funktionen im Mittelpunkt. Darüber hinaus erfolgt standardmäßig auch eine körperlich-klinische Untersuchung mit einem Augenmerk auf die neurologischen, sensorischen & intellektuellen Funktionen. Die weitere Anamnese konzentriert sich vor allem auf die nachfolgenden Punkte:

  • biographische Anamnese (v.a. Entwicklungsverlauf)
  • Familien- und Schulsituation sowie schulische Integration
  • Auswirkungen der Leistungsdefizite auf psychische und soziale Entwicklung
  • gesellschaftliche Teilhabe

Alternative Faktoren, die für Probleme in Mathematik sorgen können und nicht im Spektrum der Rechenschwäche zu finden sind, sind z.B. schlechtere Beschulung (Unterrichtsqualität, andere Unterrichtssprache als Muttersprache), lange Schulabstinenz (z.B. durch Krankheit) oder schlechte Möglichkeiten zu Lernen (z.B. Unruhe zu Hause oder familiäre Konflikte). Des Weiteren ist differentialdiagnostisch vor allem auf die folgenden Phänomene zu achten:

  • Seh- und/oder Hörstörung
  • Intelligenzminderung
  • Hirnschädigungen oder -krankheiten mit Akalkulie (infantile Zerebralparese, Epilepsie, Gerstmann-Syndrom)
  • neurogenetische Störungen (z.B. Turner-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom)
  • fetales Alkoholsyndrom
  • ggf. Folgen einer Frühgeburt und/oder geringen Geburtsgewichts

Zusätzlich sind bei der Diagnostik einer Lernentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung in Mathematik relevante Komorbiditäten zu berücksichtigen, wozu v.a. eine LRS (in ca. 33 – 40 % der Fälle), ADHS (in ca. 22 % der Fälle), Störungen des Sozialverhaltens wie z.B. aggressives Verhalten (in ca. 20 % der Fälle) und spezifische Phobien wie Matheangst & Prüfungsangst mit Schulvermeidung (in ca. 20 % der Fälle) gehören. Weitere Komorbiditäten sind:

  • Sprachentwicklungsstörungen
  • tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. Autismus)
  • depressive Erkrankung mit Unglücklichsein, Selbstentwertung, Antriebsverlust und sozialem Rückzug
  • psychosomatische Beschwerden (Kopfschmerzen, Bauchweh, Übelkeit)

Genauso wie bei der Lese- und/oder Rechtschreibschwäche sind während der gesamten Diagnostik folgende Punkte zu berücksichtigen:

  • Altersdiskrepanz
  • Klassennormdiskrepanz
  • IQ-Diskrepanz

Diagnosekriterien & Symptomatik

Grundsätzlich lässt sich zur Symptomatik der Dyskalkulie konstatieren, dass die vorhandenen Defizite v.a. die grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation & Division betreffen und weniger höhere mathematische Fähigkeiten.

Die Symptome lassen sich zu Teilen anhand des Alters im Entwicklungsverlauf einteilen. So sind die folgenden Symptome bzw. Hinweise typisch für Rechenschwäche im Vorschulalter sind:

  • Schwierigkeiten beim Vergleich von Zahlen und Mengen
  • Fehler beim freien Zählen oder Abzählen von konkreten Objekten
  • Menge von Objekten werden falsche Zahlen zugeordnet
  • Einstellige arabische Zahlen können nicht benannt werden
  • Schätzen einer kleinen Menge von Objekten gelingt nicht
  • einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben, auch mit anschaulichen Objekten, werden fehlerhaft gelöst

Sobald die Betroffenen älter werden, verändern sich die Dezifite zu Teilen, sodass typische Symptome bzw. Hinweise für Rechenschwäche im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter folgendermaßen aussehen:

  • grundlegende Schwierigkeiten der Numerosität (z.B. gestörter Zahlensinn)
  • Schwierigkeiten im Bereich der Zahlensemantik (unzureichendes Verständnis für Rechenoperationen und diesen zugrunde liegender Konzepte)
  • Schwierigkeiten im Erwerb des arabischen Stellenwertsystems und der syntaktischen Regeln und Rechenprozeduren (z.B. Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division)
  • Schwierigkeiten beim Zählen oder Abzählen (z.B. Vorwärts- und Rückwärtszählen, Zählen in größeren Schritten, Probleme beim Zehner-, Hunderterübergang)
  • Schwierigkeiten beim visuell-verbalen Transcodieren von Zahlen (z.B. Zahlendreher und Stellenwertfehler)
  • repetitives Neurechnen simpler Rechenaufgaben, anstatt Abruf aus Gedächtnis
  • Defizite im Aufbau/Abruf von numerischem Faktenwissen (z.B. zählendes Rechnen bei Addition, oft auch mit Zuhilfenahme der Finger)
  • Verrechnen um eins oder Fehler im Umgang mit der Null
  • Vertauschen oder Nichtberücksichtigen von Rechenzeichen
  • Schwierigkeiten beim Rechnen mit Platzhalter oder Schätzaufgaben
  • falsches Entschlüsseln von Textaufgaben (z.B. Probleme bei der Unterscheidung ähnlicher Zahlworte, z.B. „dreizehn“ und „dreißig“)
  • Defizite im prozeduralen Wissen und im Faktenwissen
  • falsche Verständnis sowie falsche Anwendung arithmetischer Prozeduren und Regeln (z.B. 2 + 5 = 5 + 2)
  • Schwierigkeiten beim Kopfrechnen (ggf. auch schriftliches oder anschauliches Rechnen bei einfachen Aufgaben nötig)
  • Schwierigkeiten beim Umgang mit Zeit, Geld, Mengen, Längen oder Gewichten (z.B. Überschlagen und Schätzen)
  • ggf. Probleme beim Zeichnen von Figuren oder Erkennen von Symmetrien
  • Defizite im verbalen Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis
  • aufmerksamkeitsbezogene Schwächen beim Abschreiben von Ziffern oder Zahlen, Übertragen und Addieren der „behaltenen Zahl“ und Nichtbeachten von Rechenzeichen

Therapie

Primär muss festgestellt werden, dass Rechenstörungen bei ausbleibender Therapie bis ins Erwachsenenalter eine hohe Persistenz haben, sich die Symptomatik aber im Laufe der Zeit verändern kann. Die Nicht- oder nicht ausreichende Therapie der Dyskalkulie ist dann mit vielen negative Auswirkungen auf das normale Leben verbunden, darunter z.B.

  • Probleme beim Alltagsrechnen an der Kasse
  • Probleme bei der Berufswahl, z.B. durch schlechteren Schul- und/oder Ausbildungsabschluss
  • niedrigeres Einkommen
  • höheres Risiko für Arbeitslosigkeit
  • insgesamt niedrigere sozialökonomische Status

Grundsätzlich sollten die Interventionsmaßnahmen zur Prävention & Förderung bei Rechenstörung wissenschaftlich evaluiert & evidenzbasiert sein und sich an den während der Diagnostik erkannten Problemschwerpunkte orientieren. Des Weiteren sollten klinisch relevante Zusammenhangssymptome sowie Komorbiditäten ergänzend berücksichtigt werden. Die Fördermaßnahmen sollten in Form von Einzelsitzungen durchgeführt werden und mindestens 45 min lang sein. Begonnen werden sollte mit den Therapieangeboten ab dem Vorschulalter und solange fortgeführt werden, solange sie geeignet und notwendig sind. Wie bei der Legasthenie sind ebenfalls mindestens jährlich stattfindende störungsspezifische Verlaufsuntersuchungen durch unabhängige, einschlägige Fachkräfte zur Indikationsüberprüfung durchzuführen.

Quellen

Published inWelttag...

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