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Leitlinie „Head injury – assessment and early management“ des NICE (Update 2023)

veröffentlichende Fachgesellschaft: National Institute for Care and Health Excellence
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 18.05.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.nice.org.uk/guidance/ng232

Definitionen

  • komplexe Schädelfraktur oder penetrierende Kopfverletzung (z.B. basale, offene oder eingedrückte Schädelfraktur):
    • klare Flüssigkeit, die aus den Ohren oder der Nase läuft
    • blaues Auge ohne entsprechende Schäden um die Augen herum
    • Blutungen aus einem/beiden Ohren
    • Blutergüsse hinter einem/beiden Ohren
    • Anzeichen einer penetrierenden Verletzung
    • sichtbare Verletzungen der Kopfhaut/des Schädels, die von Relevanz sind
  • fokal neurologisches Defizit (neurologische Probleme, die sich z. B. auf bestimmtes Körperteil oder bestimmte Tätigkeit beschränken):
    • Schwierigkeiten beim Verstehen, Sprechen, Lesen oder Schreiben
    • verminderte Empfindung
    • Verlust des Gleichgewichts
    • Schwäche
    • visuelle Veränderungen
    • Nystagmus
    • abnorme Reflexe
    • Probleme beim Gehen
    • Amnesie seit Verletzung
  • Hochenergie-/Hochrasanz-Kopfverletzung (Verletzungsmechanismen wie z.B.)
    • Fußgänger der von Pkw angefahren wird
    • Extrusion eines Fahrzeuginsasses
    • Sturz > 1 m oder 5 Stufen
    • Tauchunfall
    • Fahrzeugüberschlag nach Fahrzeugkollision
  • Hypopituitarismus
    • Unteraktivität der Hypophyse
    • adrenocorticotrope Hormon (ACTH)-Mangel, der Schwäche, Müdigkeit, Gewichtsverlust, Hypotonie, Hyponatriämie, Hypoglykämie, Hyperkalzämie, Anämie und Müdigkeit verursacht
    • Wachstumshormonmangel, der zu verminderter Energie, schlechter Stimmung, neuropsychiatrischen/kognitiven Veränderungen, erhöhte Fettmasse, veränderter Stoffwechsel und verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit führt
    • Sexualhormonen-Mangel, der zu späterer Pubertät, Hitzewallungen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Verlust der Körperbehaarung, vermindertem Sexualtrieb, unregelmäßigen Perioden, Erektionsstörungen und verminderter Fruchtbarkeit führen kann
    • Mangel an schilddrüsenstimulierendem Hormonen, der sich in langsamem Wachstum, Müdigkeit, Lethargie, Kälteunverträglichkeit und Gewichtszunahme äußert
    • Vasopressinmangel mit Polyurie, Polydipsie, Nykturie und Inkontinenz
  • isolierte einfache lineare, nicht verschobene Schädelfraktur
    • einzelner linearer Bruch, der keine Verschiebung nach innen oder außen aufweist, nicht aus mehreren Bruchlinien besteht und die normalen Schädelnähte nicht betrifft
  • Parästhesie
    • „Nadelstiche“, Kribbeln oder Jucken an irgendeinem Teil des Körpers

Symptomatik

  • Sensorik und Motorik
    • Kopfschmerzen
    • Schwindelgefühl
    • Übelkeit
    • Veränderungen des Sehvermögens (verschwommenes Sehen, Doppeltsehen, „Sterne sehen“ etc.)
    • Probleme bei der visuellen Verarbeitung
    • Schwierigkeiten, wach zu bleiben oder mehr Stunden als gewöhnlich zu schlafen und chronische Müdigkeit
    • ungewöhnliche Empfindlichkeit gegenüber Lärm (Hyperakusis)
    • ungewöhnliche Empfindlichkeit gegenüber hellem Licht (Photophobie)
    • Schwierigkeiten mit Gleichgewicht, Koordination und Mobilität, die häufig zu Stürzen, Zusammenstößen mit Gegenständen und manchmal zu weiteren traumatischen Hirnverletzungen führen
    • Sprachprobleme
  • Kognition
    • kognitive Schwierigkeiten (solange GCS 15 beträgt), die manchmal als „Brain-Fog“ bezeichnet werden und zu Wort-/Zahlfindungsstörungen, Schwierigkeiten beim Sprechen, verlangsamte Reaktionsfähigkeit, Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme bei der Informationsverarbeitung führen können
    • Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen, wie Organisation, Planung und Multitasking
    • Amnesie
    • Probleme mit räumlichem Bewusstsein und Propriozeption
  • Emotionalität
    • Labilität (z.B. aufgrund Überwältigung durch Sinneseindrücke) oder Reizbarkeit
    • Depression
    • Angstzustände
  • zusätzliche Symptome bei Kindern < 5 Jahren
    • Veränderungen des normalen Verhaltens, wie z.B. häufiges Weinen oder Reizbarkeit
    • Veränderungen der Fütterungs- oder Schlafgewohnheiten
    • Verlust des Interesses an Menschen oder Gegenständen
    • Antriebslosigkeit

Alarmierungsindikationen

  • Bewusstlosigkeit oder Bewusstseinsstörung (z.B. Probleme, die Augen offen zu halten), auch Bewusstseinsverlust mit nachfolgender Erholung
  • fokale neurologische Defizite
  • V.a. komplexe Schädelfraktur oder penetrierende Kopfverletzung
  • Krampfanfall
  • Hochenergie-/Hochrasanz-Trauma
  • Amnesie in Bezug auf Ereignisse vor/nach Verletzung
  • anhaltende Kopfschmerzen seit Verletzung
  • etwaiges Erbrechen seit Verletzung (bei Kindern < 12 Jahren ist die Ursache des Erbrechens und die Notwendigkeit einer Überweisung nach klinischem Ermessen zu beurteilen)
  • frühere Gehirnoperation
  • Blutungen oder Gerinnungsstörungen in der Vorgeschichte
  • derzeitige Behandlung mit Antikoagulantien und Thrombozytenaggregationshemmern (außer Aspirin-Monotherapie)
  • derzeitige Drogen- oder Alkoholintoxikation
  • andere Sicherheitsbedenken
  • Reizbarkeit oder verändertes Verhalten, wie leichte Ablenkbarkeit, fehlende Konzentration (v.a. bei Säuglingen und Kindern < 5 Jahren)
  • GCS <15 bei Erstuntersuchung
  • keine andere Möglichkeit des Transportes in die Notaufnahme
  • keine Möglichkeit der Überwachung im häuslichen Umfeld

Diagnostik

  • Diagostik gemäß ATLS, ITLS, PHTLS o.Ä.
  • GCS/pGCS-Erhebung oder -Verlaufsveränderungen (CAVE: Vorerkrankungen wie Demenz o.Ä. bedrücksichtigen)
  • bei vermindertem Bewusstsein Intoxikation erwägen, wenn schwere traumatische Hirnverletzung ausgeschlossen wurde
  • Missbrauch, Vernachlässigung etc. als (Mit-)Ursache erwägen oder vermuten
  • Dokumentation von GCS, Pupillen, Extremitätenbewegungen, AF, HF, RR, Temperatur, SpO2

Therapie

  • Therapie gemäß ATLS, ITLS, PHTLS, pALS o.Ä. (ABCDE)
    • initiale Behandlung kritischer/lebensbedrohlicher Verletzungen (cABCDE)
  • ggf. falls notwendig Vollimmobilisation
  • ggf. erweitertes Atemwegsmanagement bei GCS < 8 (bei Hyperventilation O2-Konz. erhöhen)
  • ggf. zielgerichtete Volumentherapie (MAD-Ziel: 80 mmHg)
  • ausreichende Analgesie sowie ggf. Schienung von Extremitätentraumata
  • Gabe von Tranexamsäure bei Kopfverletzung, GCS < 12 und ohne (vermutete) aktive extrakranielle Blutung (Gabe so schnell wie möglich innerhalb von 2 h nach Verletzung)
    • 2 g TXA als i.v.-Bolus bei Alter > 16 Jahre
    • 15 – 30 mg/kg als i.v.-Bolus bei Alter < 16 Jahre (max. 2 g)
  • Voranmeldung in Zielkrankenhaus (v.a. bei GCS < 8)
  • Transport in (überregionales) Traumazentrum
  • Erstuntersuchung in Notaufnahme in max. 15 min nach Eintreffen

Intubationsindikationen

(Zielwerte: PaO2 >13 kPa und PaCO2 von 4,5 – 5,0 kPa)

  • GCS < 8
  • Verlust der Schutzreflexe
  • insuffizienter Atmung (PaO2 < 13 kPa bei O2-Gabe oder PaCO2 > 6 kPa)
  • unregelmäßiger Atmung
  • instabile Gesichtsfrakturen
  • starke Blutungen in den Mund (z.B. bei Schädelbasisfraktur)
  • Krampfanfälle

CT-Indikationen

  • CT nach < 1 h bei
    • GCS < 12 bei Erstuntersuchung in Notaufnahme
    • GCS < 15 2 h nach Beurteilung in Notaufnahme
    • Verdacht auf offene/eingedrückte Schädelfraktur
    • Anzeichen einer Schädelbasisfraktur (Hämotympanon, „Panda“-Augen, Liquoraustritt aus Ohr oder Nase, Battle-Signs)
    • posttraumatischer Krampfanfall
    • fokales neurologisches Defizit
    • mehr als einmaliges Erbrechen
    • (bezeugbarer) Bewusstseinsverlust > 5 min
    • abnorme Schläfrigkeit/Vigilanz
    • gefährlicher Verletzungsmechanismus
    • Amnesie (anterograde/retrograde) > 5 min anhält (Bewertung Kindern, die nicht sprechen können, nicht möglich und bei Kindern < 5 Jahren wahrscheinlich nicht möglich)
    • bestehende Blutungs- oder Gerinnungsstörung
  • CT nach < 1 h bei Patient*innen < 16 Jahre mit
    • V.a.nicht unfallbedingte Verletzung
    • posttraumatischem Krampfanfall
    • GCS < 14 bei Erstuntersuchung in Notaufnahme (bei Säuglingen < 1 Jahr pGCS < 15)
    • GCS < 15 2 h nach Beurteilung in Notaufnahme
    • V.a. offene/eingedrückte Schädelfraktur oder gespannte Fontanelle
    • Anzeichen einer Schädelbasisfraktur (Hämotympanon, „Panda“-Augen, Liquoraustritt aus Ohr oder Nase, Battle-Signs)
    • fokales neurologisches Defizit
    • Prellung, Schwellung oder Risswunde > 5 cm am Kopf bei Säuglingen < 1 Jahr
  • CT auch nach < 8 h bei
    • Alter > 65 Jahre
    • bestehende Blutungs- oder Gerinnungsstörung
    • gefährlicher Verletzungsmechanismus
    • retrograde Amnesie > 30 min in Bezug auf Ereignisse unmittelbar vor Kopfverletzung
  • CT bis 4 h während Beobachtung (Tritt keiner der Risikofaktoren während der Beobachtung auf, ist nach klinischem Ermessen zu entscheiden, ob längere Beobachtungszeit erforderlich ist.)
    • GCS < 15
    • weiteres Erbrechen
    • weitere Episoden von abnormer Vigilanz
  • CT bei Behandlung mit Antikoagulantien (inkl. Vitamin-K-Antagonisten, DOAK, Heparin und NMH) oder Thrombozytenaggregationshemmern (Ausnahme Aspirin-Monotherapie)
    • innerhalb von 8 h nach Verletzung
    • innerhalb einer Stunde, wenn Person erst > 8 h nach Verletzung eingeliefert wird

Verlegung in Neurochirurgie

  • Verlegung bei schweren Kopfverletzungen (GCS < 8) unabhängig der Notwendigkeit eines neurochirurgischen Eingriffs
  • Verlegung nur in Fahrzeug, das über Mittel verfügt, um Zustandsänderungen zu behandeln
  • vor Verlegung bestmögliche Stabilisierung der Patient*innen (CAVE: Transport von Patient*in mit anhaltender Hypotonie erst nach Ursachenermittlung)
  • Intubation vor Verlegung bei o.g. Kriterien
  • CAVE: Möglichkeit okkulter extrakranieller Verletzungen mit Mehrfachverletzungen erwägen

Indikationen zur Wiedervorstellung

  • neue, klinisch bedeutsame Auffälligkeiten in der Bildgebung (CAVE: isolierte, einfache, lineare, nicht verschobene Schädelfraktur ist wahrscheinlich keine klinisch bedeutsame Auffälligkeit, es sei denn, es besteht die Einnahme gerinnungshemmender oder blutplättchenhemmender Medikamente)
  • GCS < 15 bzw. nicht auf Ausgangswert vor Verletzung zurückgegangen, unabhängig von den Ergebnissen der Bildgebung
  • anhaltende besorgniserregende Symptome (z.B. anhaltendes Erbrechen, starke Kopfschmerzen oder Krampfanfälle)
  • andere besorgniserregende Gründe (z.B. Drogen-/Alkoholintoxikation, andere Verletzungen, Schock, V.a. nicht unfallbedingte Verletzung, Meningismus, Liquorverlust oder V.a. anhaltende posttraumatische Amnesie)
  • CAVE: jede Schwere einer Kopfverletzung kann Hypophysenfunktionsstörung (Hypopituitarismus) verursachen, welche unmittelbar, Stunden, Wochen oder Monate nach Verletzung auftreten kann
Published inLeitlinien kompakt

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