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Leitlinie „Versorgung peripherer Nervenverletzungen“ der DGOU

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie, Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie, Deutsche Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie & Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 30.09.2023
Ablaufdatum: 29.09.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/005-010

Grundsätzliches

  • periphere Nervenverletzung = Unterbrechung/Sistieren der Funktionsfähigkeit eines Nervs durch oder in Folge äußerer Noxen, nämlich Schnitt, Stich, Dehnung, Prellung/Druck, inklusive der iatrogenen, physikalischen (Elektrotrauma, Kälte, Strahlung usw.) und chemischen Läsionen (Injektion usw.)
  • Kontinuitätsläsionen = Nervenverletzung im Sinne einer Neurapraxie oder Axonotmesis, bei denen also zumindest Nervenhülle und damit Kontinuität des Nervs erhalten ist (v.a. bei geschlossenen und offenen Verletzungen durch Druck- oder Zugeinwirkung)
  • Diskontinuitätsläsionen = Nervenverletzung ohne erhaltene Nervenhülle und damit Kontinuität des Nervs
  • entscheidend sind frühe Einleitung der Diagnostik und Therapie, offene Gesprächsführung mit den Patient*innen und frühes Hinzuziehen nervenchirurgisch erfahrener Expertise

Epidemiologie

  • trotz relativ niedriger Inzidenz hohe medizinische, gesellschaftliche und gesundheitsökonomische Relevanz
  • in relevantem Ausmaß mit weiteren begleitenden Verletzungen und Kontextfaktoren assoziiert
  • zu relevantem Anteil mit Frakturen assoziiert (bis zu 4 %)
  • Häufigkeit und Schwere von Nervenverletzungen nimmt mit zunehmender Gesamtverletzungsschwere zu
  • Häufigkeit von Nervenverletzungen beim Polytrauma: 2 – 4 %
  • in bis zu 17,4 % der Fälle iatrogene Ursache

Ätiologie

  • Nervenverletzungen durch Schussverletzungen sind besondere Entität (Komplexverletzung mit starker Verschmutzung und Nekrosen des umliegenden Gewebes durch die vom Projektil abgegebene kinetische Energie)
  • Pathophysiologie der Nervenschädigung bei Frakturen
    • Epineurium umgebende bindegewebige Gleitschicht gewährleistet freies Gleiten des Nervs
    • Elongation bis 12 % der Ruhelänge ohne funktionellen Schaden werden kurzfristig toleriert
    • ab Dehnung von 8 % über Ruhelänge hinaus kommt es bereits zur venösen Abflussstörung um bis zu 50 %
    • axonale Fasern reißen bereits bei Dehnung von 4 – 6 %
    • arterielle Einstromstörungen und Ischämien treten bei Dehnungen ab 16 % auf
    • funktionelle Defizite bei Nervendehnung bereits bei Dehnungsraten zw. 5 – 10 %
    • ggf. auch sekundäre Schädigung durch Nervenkompression aufgrund Frakturhämatom oder des sich bildenden Kallus möglich
  • Faktoren für das Entstehen von Dehnungsschäden
    • erhöhte Belastung durch Kompression oder Dehnung
    • erhöhte Rate der Belastung
    • erhöhte Dauer der Belastung
    • ungleichmäßige Applikation von Belastung auf das Gewebe

Diagnostik

  • sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte und/oder des Unfallhergangs, um periphere Nervenverletzung von spinalen, zerebralen oder anderen Funktionsstörungen abzugrenzen
  • klinische Untersuchung in Form von Inspektion & Palpation zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Überprüfung der Nerven-, Muskel- als auch Gelenkfunktion hinsichtlich Motorik, Sensibilität & Schmerzausprägung)
  • Befunderhebung initial und im Verlauf zur Beurteilung einer Spontanbesserung, Verschlechterung oder Indikationsstellung
  • Röntgen des verletzten Teils einer Extremität in Standardtechnik in zwei oder drei Ebenen (ggf. zusätzliche Aufnahmen zur Feststellung bzw. zum Ausschluss knöcherner Veränderungen und Frakturen in Nervennähe)
  • Sonografie präoperativ bei diagnostischer Unsicherheit
  • MRT bzw. Magnetresonanz-Neurografie bei unklaren Fällen zur Lokalisation der Nervenläsion sowie zur Beurteilung der Ursache und des Schwergrades
  • Angiografie, Angio-CT oder CT-Untersuchung kann ergänzende Informationen als indirekten Hinweis auf Nervenverletzung liefern
  • CAVE: mit klinischen Symptomen und physikalischem Befund allein häufig schwer/unmöglich zwischen Neurapraxie-, Axonotmesis- und Neurotmesis- Schädigungen zu unterscheiden (v.a. im Frühstadium)
  • bei Funktionsstörung und Verlauf des Nervs entlang einer offenen Verletzung zunächst von Nervenbeteiligung ausgehen –> sofortige Exploration
  • genaue Dokumentation des neurologischen Befundes, v.a. bei geschlossenen/stumpfen bzw. bei Dehnungs-Verletzungen
  • Hoffmann-Tinel-Zeichen = Parästhesien bzw. einschießender Schmerz bei Perkussion eines geschädigten Nerven distal im entsprechenden Versorgungsgebiet
  • besonders verletzungsgefährdete Nerven bei Frakturen
    • N. axillaris, N. radialis & N. peroneus bedingt durch Nervenläsionen als direkte Frakturfolge aufgrund des anatomischen Verlauf und der kritischen vaskulären Versorgung
    • N. axillaris in Folge von Schultergelenkluxationen, aber auch von dislozierten proximalen Humerusfrakturen (Häufigkeit: 3 – 40 %)
    • N. radialis bei Oberarmverletzungen, v.a. bei Frakturen am Schaft oder um den Ellenbogen (Häufigkeit: ca. 12 %)
    • N. ischiadicus bei Acetabulumfrakturen (Häufigkeit: 8 – 12 %)

Einteilung/Klassifikation

Klinische Anwendung der Klassifizierungen nach Seddon und Sunderland am häufigsten.

  • Einteilung in
    • offene und geschlossene Nervenverletzung
    • Kontinuitäts- und Diskontinuitätsläsion
  • Klassifizierung nach
    • Seddon
      • I. Neurapraxie: Demyelinisierung mit daraus resultierendem Leitungsblock ohne strukturelle Schädigung des Axons oder einer anderen Komponente des Nervs
        • II. Axonotmesis: Zerstörung des Axons ohne Schädigung einer der Hüllschichten
          • III. Neurotmesis: komplette Durchtrennung des gesamten Nervs mit Schädigung des Axons und aller Hüllschichten
    • Sunderland
      • I. Neurapraxie: entspricht Seddons Definition der Neurapraxie
        • II. Axonotmesis Grad I: entspricht Seddons Axonotmesis
        • III. Axonotmesis Grad II: Axonotmesis mit zusätzlicher Schädigung des Endoneuriums
        • IV. Axonotmesis Grad III: Axonotmesis mit zusätzlicher Schädigung des Endo- & Perineuriums sowie des interfaszikulären Epineuriums
          • V. Neurotmesis: entspricht Seddons Neurotmesis
    • Dellon und Mackinnon
      • basiert auf Sunderland-Skala mit Erweiterung um ein sechstes Schädigungsmuster: VI. Verletzung vom Mischtyp: Vorliegen der jeweils anderen Schädigungsgrade in Kombination
    • Millesi-Klassifikation für die Sunderland III – V
      • Typ A: Fibrose des extrafaszikulären Epineuriums
        • Typ B: Fibrose des intrafaszikulären Epineuriums
        • Typ C: Fibrose des Endoneuriums
        • Typ N: Neurom (Typ IV nach Sunderland)
          • Typ S: Stumpf

Zuordnung von Bewegung zu betroffenen Nerven, Nervenwurzeln und Muskeln

Quelle: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/005-010

Quelle: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/005-010

Therapie

  • zeitnahe Zuführung adäquater mikrochirurgischer, operativer Maßnahmen bei operativ zu versorgenden Nervenschäden, um möglichst frühe Reinnervation zu realisieren
  • Behandlungsziel ist immer die funktionelle Verbesserung oder sogar Wiederherstellung der Funktionen und, noch weitreichender, die bestmögliche Reintegration der Patienten in Arbeit und soziales Umfeld
  • für Einschätzung der peripheren Nervenverletzung und Entscheidung über Notwendigkeit, Timing und Wahl eines operativen Verfahrens sind v.a. folgende Aspekte relevant:
    • Traumamechanismus
    • Begleitverletzungen
    • Zeitpunkt
    • Defektlänge
    • funktionelles & morphologisches Schädigungsausmaß
    • Ergebnisse der bildgebenden und elektrophysiologischen Diagnostik
Published inLeitlinien kompakt

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