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Leitlinie „Global Snake Envenomation Management“ des JTS

veröffentlichende Fachgesellschaft: Joint Trauma System – Department of Defense Center of Excellence for Trauma
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 30.06.2020
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://jts.health.mil/index.cfm/PI_CPGs/cpgs

Allgemeine Grundsätze der Behandlung von Schlangenbissen

klinische Triaden bei Schlangenbiss

  • neurotoxischer Trias (bilaterale Ptosis, absteigende Lähmung, Dyspnoe)
  • hämotoxischer Trias (Koagulopathie, lokale Blutung, systemische Blutung)
  • cytotoxischer Trias (starke Schmerzen, Gewebezerstörung, fortschreitendes Ödem)

Grundsätzliches zu Schlangenbissen und Antidot-Therapie

  • nicht alle Schlangen sind giftig und nicht alle Schlangenbisse führen zu einer Vergiftung
    • ca. 25 % der Bisse von gefährlich giftigen Schlangen sind harmlose „Trockenbisse“, bei denen kein Gift injiziert wird
  • Behandlung eines Schlangenbisses richten sich nach klinischem Bild und Symptomentwicklung, nicht nach der Art der Schlange
    • nicht Versuchen, die Schlangenart zu identifizieren; Identifizierung der Schlangenart ändert nichts an der Patientenversorgung
  • es gibt keine absoluten Kontraindikationen für die Antidot-Therapie
    • möglichst frühzeitige Antidot-Therapie ist der Goldstandard bei der Behandlung von Schlangenbissen
    • Dosierung und Verabreichung der empfohlenen Antidots kann von Produkt zu Produkt erheblich variieren
    • Antidot kann i.v. oder i.o. appliziert werden; i.v. ist vorzuziehen
    • keine i.m.- oder s.c.-Applikation, auch entgegen der Packungsbeilage
    • Antidot-Dosierung ist nicht gewichtsabhängig; es gibt keinen Unterschied in der Dosierung zwischen Erwachsenen und Kindern
    • benötigte Dosis des Gegengiftes ist proportional zur Dosis des in den Patienten injizierten Giftes (Menge des dem Patienten injizierten Giftes entspricht dem Schweregrad des Vergiftungssyndroms)
  • regelmäßige Erhebung und Dokumentation der diagnostischer Werte und Untersuchungen
    • Uhrzeit und Datum des Bisses
    • Zeit vom Biss bis zur Erstversorgung
    • Zeitpunkt der Verabreichung des Antidots
    • regelmäßige Reevaluation nach 2, 4, 6, 12 und 24 h
  • Schlangenbisse sind klinisch dynamische Notfälle und können sich akut und dramatisch verändern

Diagnostik & Therapie

initiale Prioritäten

  • ABC sowie sowie rasche Antidot-Gabe sind initial am Wichtigsten
    • ABC beurteilen
    • unmittelbar lebensbedrohliche Zustände erkennen und behandeln
    • eventuell auftretende sekundäre Probleme (wie Anaphylaxie oder hypovolämischen Schock) behandeln
    • Anlage i.v./i.o.-Zugang an nicht betroffener Extremität
  • keine Tourniquets oder sonstige Abbinde-Techniken anwenden
    • wenn vorhanden, solange belassen bis alle weiteren Maßnahmen getroffen sind um einer plötzlichen Dekompensation entgegenzuwirken
    • beim Lösen eines Tourniquets langsam vorgehen (einige Sekunden lösen – festziehen – beobachten – wiederholen) über einen Zeitraum von 20 – 30 min
      • wenn Symptome auftreten sofort das Gegengift verabreichen und das Tourniquets min. 30 min so belassen, bevor eine weitere Lockerung vorgenommen wird
  • Bewegung/Aktivität der Patient*innen einschränken und betroffene Extremitäten locker immobilisieren
    • falls möglich, betroffene Extremität in einer bequemen Position über Herzhöhe lagern (im besten Fall Winkel von min. 60 °)
  • auf spezifische Symptome einer Schlangengiftintoxikation achten

fokussierte Untersuchung und Befunderhebung

  • Dokumentation des Zeitpunkts des Bisses und Bisswunde einkreisen
  • berücksichtigen, dass Schlangenbisse Einstiche, mehrfache Risswunden oder auch gar keine offensichtlichen Reißzahnspuren hinterlassen können
  • schnelle Untersuchung auf Anzeichen von Schmerzen, Schwellungen oder Gewebezerstörung (zytotoxisches Syndrom)
    • Anfänge von Schmerzen (gestrichelte Linie) und Ödemen (durchgezogene Linie) mit einem Permanentmarker markieren (ggf. auch mit Uhrzeiten)
  • schnelle Untersuchung auf Anzeichen von lokalen oder systemischen Blutungen (hämotoxisches Syndrom)
    • betroffene Extremität auf anhaltende lokale Blutungen > 30 min aus der Bisswunde (falls sichtbar) oder andere Läsionen untersuchen
    • (Mund-)Schleimhäute auf Anzeichen einer systemischen Blutung untersuchen
  • schnelle Untersuchung auf Anzeichen einer neuromuskulären Schwäche (neurotoxisches Syndrom)
    • Atemmuskelschwäche mit Atemzähltest beurteilen; regelmäßig Wiederholung
      • Single Breath Count (SBC)-Test (tief einatmen und mit lange wie möglich zählen)
      • SBC korreliert eng mit der Spirometrie
      • normaler SBC-Wert liegt bei ca. 50; SBC-Wert < 20 bedeutet, dass mechanische Beatmung erforderlich ist

instabile Patienten/Protokoll zur Behandlung des Sudden Collapse Syndrome

(innerhalb von 30 min nach Biss mit rasch einsetzendem Schock ± Angioödem, verändertem Bewusstsein, systemische Blutungen und Durchfall)

  1. Epinephrin i.m./i.v. und Flüssigkeit gemäß den Anaphylaxie-Leitlinien
  2. Intubation bei Atemwegsödemen, die nicht schnell auf Epinephrin ansprechen
  3. nach Epinephrin-Gabe sofort hochdosierte Gabe des passenden Antidots i.v./i.o.; i.o.-Pushdose während Reanimation
  4. Blutdruck mit intravenöser Flüssigkeit und Epinephrin aufrechterhalten bis das Antidot seine Wirkung entfaltet hat

vereinfachte universelle Diagnose- und Behandlungskriterien für Schlangenbisse

neurotoxisches Syndromhämotoxisches Syndromcytotoxisches Syndrom
mildlokale Parästhesien; neuropathische Schmerzen; Piloerektion; Muskelkrämpfe, FaszikulationenKoagulopathie ± anhaltende lokale Blutung aus der Bisswunde > 30 min nach dem BissStarke Schmerzen; Ödeme unterhalb des Ellenbogens oder Knies; begrenzte Blasenbildung innerhalb einiger Zentimeter der Bisswunde
moderatsystemische Symptome (beidseitige Ptosis, GI-Symptome; visuelle, auditive oder andere sensorische Störungen; weit verbreitete Hyperästhesie)Mäßige systemische Blutungen (alter Schorf, Zahnfleischbluten, Epistaxis usw.); Blutergüsse weit entfernt von der BisswundeÖdem oberhalb des Ellenbogens oder Knies, aber nicht über Schulter oder Hüfte hinaus; mäßige lokale Blasenbildung entlang des gebissenen Gliedmaßensegments
schwerSchwierigkeiten beim Sprechen; veränderter Bewusstseinszustand; Atemmuskelschwäche, die zu Atembeschwerden führt; Schock oder anderweitig instabiler Patientaktive GI-Blutung (gewöhnlich Hämatemesis) oder andere innere Blutungen; schwere Anämie; veränderter
Bewusstseinszustand; Schock oder anderweitig instabiler Patient
fortschreitendes Ödem jenseits von Schulter oder Hüfte; schwere Nekrose oder ausgedehnte Blasenbildung; symptomatischer Biss an Kopf, Hals oder Rumpf; veränderter
Bewusstseinszustand; Schock oder anderweitig instabiler Patient
S/Sx = Anzeichen und Symptome; SBC = Single Breath Count Test; LOC = Bewusstseinszustand

weitere Maßnahmen

  • ggf. aggressives Atemwegsmanagement mit Intubation und maschineller Beatmung erforderlich
  • bei cholinerger Krise 0,5 mg Atropin i.v./i.o. zur Hypersekretionen (Auskultationsbefund)
    • Wiederholung alle 5 min bis Knistern, Rasseln und Bronchospasmus verschwunden sind
    • pädiatrische Atropin-Dosis gewichtsabhängig (0,01 mg/kg – 0,25 mg)
  • ausbleibende cholinerge Krise, aber Ptosis und Atemmuskelschwäche: Probedosis von 0,5 mg Atropin, gefolgt von 1 mg Neostigmin i.v./i.o., um neuromuskuläre Schwäche vorübergehend umzukehren
    • pädiatrische Atropin-Dosis gewichtsabhängig (0,01 mg/kg – 0,25 mg + 0,5 mg Neostigmin)
    • bei positivem Ansprechen alle 1 – 4 h je nach Bedarf wiederholen (Höchstdosis in 24 h = 10 mg bei Erwachsenen/5 mg bei Kindern)
  • Ketamin und Fentanyl zur Analgesie vorzuziehen
  • Gliedmaßen nach Möglichkeit deutlich erhöht zu lagern (> 60º ist ideal)
  • Blasen oder Bullae NICHT routinemäßig öffnen oder absaugen
  • keine Fasziotomie bei Schlangenbissen durchführen
  • keine routinemäßige Antibiotika-Gabe

Komplikationen

Prävention frühzeitige unerwünschte Antidot-Reaktionen

  • NICHT mit Steroiden oder Antihistaminika vorbehandeln
  • KEINE Antidot-Testdosen verabreichen, um Überempfindlichkeit zu prüfen
  • KEINE Vorbehandlung mit Epinephrin vor Antidot-Gabe
    • instabilePatienten mit Schock-Zeichen
    • bekannte Atopie (Asthma, Ekzem usw.), Überempfindlichkeit gegen Pferde oder schwere Reaktionen auf Antidot in der Vergangenheit
  • Standardprotokoll für die Epinephrin-Vorbehandlung
    • Erwachsenendosis: 0,25 mg Epinephrin (Verhältnis 1:1000), einige Minuten vor Antidot-Gabe per Injektion verabreicht
    • Kinderdosis (gewichtsabhängig): 0,01 – 0,25 mg/kg
    • nur durch eine i.m.-Injektion in den seitlichen Oberschenkel

Management milder, moderater und schwerer Antidot-Reaktionen

leichte oder mittelschwere Reaktionen

  • Applikation sofort stoppen und Reaktionen (z. B. Übelkeit, Erbrechen, Urtikaria, Juckreiz, Schüttelfrost, Fieber usw.) symptomatisch nach Bedarf mit Antiemetika, Antihistaminika, Steroiden usw. behandeln
  • wenn die Symptome der zytotoxischen, hämotoxischen oder neurotoxischen Syndromen nicht vollständig abgeklungen sind, Gabe des Gegengifts mit einer langsameren Rate über 30 min wieder aufzunehmen
  • verbliebenen Menge des Gegengifts per Infusion verdünnt in 100 – 500 mL 0,9% NaCl über 30 min applizieren

schwere Reaktionen

  • Applikation sofort stoppen und anaphylaktische Reaktionen sofort gemäß Anaphylaxie-Leitlinien behandeln
  • wenn die Symptome der zytotoxischen, hämotoxischen oder neurotoxischen Syndromen nicht vollständig abgeklungen sind, Gabe des Gegengifts mit einer langsameren Rate über 30 min wieder aufzunehmen
  • 0,5 mg Epinephrin i.m. in den seitlichen Oberschenkel; bei Bedarf wiederholen
  • bei Atemwegsödemen intubieren, wenn die initiale Behandlung mit Epinephrin frustran verläuft
  • 125 mg Methylprednisolon i.v.
  • 50 mg Diphenhydramin oder Promethazin i.v.
  • H2-Antihistaminika-Gabe, z.B. Ranitidin

spezielle Situationen

Kontamination der Augen durch spuckende Kobra

  • Kobra besitzt modifizierte Reißzähne, mit denen sie Gift in die Augen spritzen kann
  • Gift ist harmlos, es sei denn, es gelangt durch Injektion (z. B. durch einen Biss), durch offene Wunden auf der Haut oder im Mund oder durch Verschlucken (z. B. durch das Trinken eines Glases Gift mit einem Geschwür) in die Augen (was sofortiges Brennen, Tränenfluss, verschwommenes Sehen usw. verursacht) oder in den Blutkreislauf
  • bei reiner Augenexposition ohne Anzeichen einer systemischen Vergiftung kein Gegengift indiziert
  • Symptome
    • starke lokale Schmerzen
    • Schwellungen und/oder Krämpfe der Augenlider
    • (weißlicher) Tränenfluss
    • Verletzung des Hornhautepithels, die bei ausbleibender/falscher Behandlung zur Erblindung durch Sekundärinfektion oder Vernarbung führen können
  • Therapie
    • Untersuchung, ob außer Augenexposition, auch ein Schlangenbiss stattfand
    • Auge sofort mit reichlich Wasser,NaCl oder einer z.B. Milch min. 15 min ausspülen
    • ggf. kontaminierte Kleidung entfernen
    • Patienten von Kopf bis Fuß mit Wasser und Seife dekontaminieren

Published inLeitlinien kompakt

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