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„Kinderschutz in der Medizin – Strukturen und Vorgehen bei Verdacht auf Vernachlässigung von und Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ der DGKiM

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 08.05.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.dgkim.de/leitlinien/2023_05_04_leitfaden-medizinischer-kinderschutz-2-0.pdf

Definitionen

  • Kindeswohlgefährdung (gemäß § 1666 BGB): gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass bei der weiteren unveränderten Entwicklung der Umstände eine erhebliche Schädigung des geistigen oder körperlichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Anforderung an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist umso geringer, je schwerer der drohende Schaden wiegt)
    • Ersetzen durch Begriffe wie Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und/oder sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen ist möglich
  • Dental Neglect: anhaltende Vernachlässigung der erforderlichen Bedürfnisse eines Kindes im Bereich der Mundgesundheit, die zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der oralen, der allgemeinen Gesundheit oder Entwicklung des Kindes führen kann
  • emotionale/psychische Misshandlung: aktive Beeinträchtigung der psychischen Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen durch Bezugspersonen, wie z.B.
    • Entwertung des Kindes oder Jugendlichen durch negative Einstellung (z.B. grobe, herabsetzende Sprache; inadäquate Strafen; unrealistische Anforderungen)
    • Instrumentalisierung der Kinder und Jugendlichen in elterlichen Konflikten
    • Vermitteln von Schuldgefühlen an Kinder oder Jugendliche
    • Verhinderung adäquater Entwicklungsmöglichkeiten
  • emotionale Vernachlässigung: andauernde oder extreme Vernachlässigung der Bedürfnisse eines Kindes, z.B.
    • Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit
    • Bedürfnis nach Akzeptanz und Selbstwertgefühl
    • Bedürfnis nach altersgemäßer Autonomie und Selbständigkeit
  • Handel mit und Ausbeutung von Kindern: Adoptionshandel, Handel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, der Anstiftung zur Begehung strafbarer Handlungen, der Bettelei oder des Organhandels, der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung
  • körperliche Misshandlung: alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden werden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes/Jugendlichen und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen
  • körperliche Vernachlässigung: „Versagen“ bzw. das Unterlassen der sorgeberechtigten Personen, für die minimal-notwendige Befriedigung physischer Bedürfnisse des Kindes (Nahrung, Flüssigkeit, Unterkunft, Kleidung, Schutz vor Gefahren oder Schaden) zu sorgen
  • Medical Neglect: Diagnosekriterien bestehend aus 5 Punkten, wovon die ersten drei Kernkriterien sind
    • Kind wird geschädigt oder droht geschädigt zu werden aufgrund fehlender Gesundheitsfürsorge
    • empfohlene Gesundheitsfürsorge bietet signifikante Vorteile für das Kind
    • erwarteter Nutzen der Behandlung ist signifikant größer als die Krankheitsschwere
    • Nachweis, dass die Möglichkeit der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe existiert, diese aber nicht genutzt wird
    • gesundheitsfürsorgende Person versteht die ihr gegebenen medizinischen
      Behandlungsvorschläge nicht
  • Münchhausen-by-proxy-Syndrom (MbpS): Form der Kindesmisshandlung, die darauf beruht, dass eine nahe stehende Person (in der Regel die Mutter) bei einem Kind Anzeichen einer Krankheit vortäuscht oder aktiv erzeugt, um es wiederholt zur medizinischen Abklärung vorzustellen
  • sexueller Missbrauch/sexuelle Gewalt/sexualisierte Gewalt: jede sexuelle Handlung, die an oder vor Kindern/Jugendlichen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen könne
  • Zeugenschaft von Gewalt: Zeugenschaft von Gewalt zwischen ihren Eltern bzw. Bezugspersonen stellt für Kinder erhebliche Belastung dar, auch wenn sie von der Gewalt nicht direkt betroffen sind

rechtliche Situation

  • Berufsgeheimnisträger*innen nach § 4 KKG befinden sich durch besondere fachliche Qualifikation und Möglichkeit Kinder und Jugendliche zu schützen, in der Garantenstellung und haben damit besondere Verantwortung und Verpflichtung, für den Schutz ihrer minderjährigen Patient*innen zu sorgen
  • seitens Berufsgeheimnisträger*innen ist zu beachten, dass zunächst grundsätzlich die Schweigepflicht gemäß § 203 StGB gilt (darf nach sorgfältiger Güterabwägung bei drohender Gefahr für ein Rechtsgut von höherem Rang gebrochen werden)
  • unabhängig der Frage einer gesetzlichen Meldepflicht ist es bei Verdachtsfällen möglich, dass in Deutschland weitgehend akzeptierte Konzept »Hilfe statt Strafe« zu praktizieren, wenn dies nach einer gründlichen Bewertung der Situation des Kindes als sinnvoll und Erfolg versprechend erachtet wird
  • Kindesmisshandlung = Offizialdelikt (bei durch Kenntnis von Polizei und Staatsanwaltschaft, muss diese ermitteln)
  • relevante Gesetze
    • Strafgesetzbuch (StGB), z.B. § 34, 174, 176, 176ff, 177, 180, 182, 184b, 203 StGB
    • Strafprozessordnung(StPO), z.B. § 81c, 81d StPO
    • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), z.B. § 1631b, 1666 BGB
    • Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), z.B. § 8a, 27, 103 SGB VII
    • Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)
    • Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (GewSchG)
    • Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG)

Risikofaktoren

Cave: aus keinem dieser Kriterien lässt sich per se eine Kindeswohlgefährdung ableiten, auch nicht aus der Kumulierung derselben

beim Kind

  • demographische Merkmale
  • junges Alter
  • männliches Geschlecht
  • Pubertät
  • geringer Altersabstand der Geschwister
  • physische Merkmale (schwierige Schwangerschaft, Geburtsprobleme, geringes Körpergewicht, gesundheitliche Probleme, Behinderung, Entwicklungsstörungen und unattraktives Aussehen)
  • Verhaltensprobleme (schwieriges Temperament, Schlafstörungen, Schreikind, Fütterstörung, psychische Behinderung wie z.B. Autismus)

bei den Eltern

  • junge Elternschaft
  • Wohnsituation, finanzielle Probleme, schlechte ökonomische Situation, soziale und sprachliche Isolierung
  • niedriger Bildungsstand
  • interaktionelle Faktoren wie Gewalt in der Familie, chronische Konflikte, antisoziales Verhalten der Eltern, familiäre Trennungen
  • rasche Schwangerschaftsfolge
  • fehlende Unterstützung von einem sozialen Netzwerk, auch in der Schwangerschaft
  • eigene körperliche, seelische oder sexuelle Misshandlungserfahrungen, häufiges Fortlaufen und Erleben eines mehrmaligen Wechsels von Bezugspersonen in Kindheit/Jugend
  • Vorliegen von psychischen Störungen oder Auffälligkeiten hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale
  • Konsum von Alkohol, Medikamenten und Drogen
  • Krankheit und Behinderung
  • kriminelle Vorgeschichte

Management

Anamnese & Diagnostik

  • initiale Aufgabe ist die Erhebung einer genauen Anamnese (vollständige Akut- & Sozialanamnese) sowie die Durchführung einer umfassenden körperlichen Untersuchung (auch Status der Mundgesundheit erheben)
  • Einschätzung der Entwicklung des Kindes mit anschließender gerichtstauglicher Dokumentation der vorliegenden Befunde
  • Prüfung anderer Hinweise auf körperliche Misshandlung als Ursache von Verletzungen, ggf. mit umfangreicherer Diagnostik, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern zum Erfassen des Ausmaßes der aktuellen sowie auch möglichen älteren Schädigungen bzw. Verletzungen

weiteres Vorgehen

  • kinderschutzmedizinische Bewertung der Diskrepanzen zwischen den erhobenen Befunden und der von den Eltern angeführten Entstehungsgeschichte
  • ggf., falls möglich, an Kinderschutzambulanzen als Anlaufstelle für Kinder und Jugendlichen, die Gewalt erfahren haben, verweisen, v.a. zur vertraulichen (anzeigenunabhängigen) Spurensicherung
  • bei akuter Gefährdung Transport in die Klinik und ggf. gemäß § 4 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) sofortige Meldung an das Jugendamt oder bei hochgradiger, weiterhin bestehender Gefahr Hinzuziehen der Polizei im Rahmen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)
  • Kind in der Klinik vorankündigen und ggf., falls möglich, Ersteinschätzung telefonisch weitergeben
  • sofern die Eltern selbst das Kind in die Klinik bringen wollen, Rückruf der Klinik vereinbaren, sobald die Eltern + Kind eingetroffen sind

Dokumentation

  • Pflegezustand, ggf. Zustand der Kleidung
  • Angaben zur Zahl, Art und Lokalisation der Verletzungen (CAVE: Verletzungen immer präzise und einzeln beschreiben)
  • Gewicht/Länge mit Perzentilen
  • ggf. grobe Einschätzung des Entwicklungsstandes
  • Kompetenz, Willen und Bewusstsein der Eltern in Bezug auf die Bedürfnisse und die Versorgung ihrer Kinder
  • Dokumentation von Aussagen möglichst wortgetreu als Zitat
  • eigene Beobachtungen und subjektive Eindrücke als solche klar kennzeichnen
  • Ort und Zeitpunkt (Tag, Uhrzeit) einer angefertigten Fotodokumentation, Zahl der angefertigten Abbildungen

Kommunikation

  • innere Haltung der professionell Helfenden
    • Empathie, d. h. Einfühlung in die Welt des Patienten/der Eltern und die Übernahme ihrer bzw. seiner Perspektive
    • Kongruenz, d.h. Echtheit und Authentizität
    • Akzeptanz, d.h. die Wertschätzung des Patienten/der Eltern als Personen
    • emotionale Wärme
  • Grundhaltung aus Balance zwischen Empathie und Distanz (verstehen, aber nicht einverstanden sein)
  • wertfreies Herangehen (klare, aber sachliche Beschreibung der Beobachtungen)
  • Vertrauensebene für gemeinsames Handeln schaffen und Eltern positiv gegenübertreten
  • Offenheit für Perspektivwechsel
  • Transparenz (Informationen und eigene Handlungsschritte nachvollziehbar darstellen sowie Grenzen aufzeigen)
  • Auftreten ggü. Kind sollte von Empathie und Akzeptanz geprägt sein
  • Kind dazu ermutigen, Fragen zu stellen, ggf. auch offene Fragen
  • ruhiges Setting schaffen
  • keine falschen Versprechungen machen
  • emotionale Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen
  • ruhig bleiben, Eskalation vermeiden (keine Aggression, keine Vorverurteilung)
Published inLeitlinien kompakt

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