veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH)
Klassifikation gemäß AWMF: S2k
Datum der Veröffentlichung: 12.08.2024
Ablaufdatum: 11.08.2029
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/006-128.html
Grundsätzliches
- bei Kindern & Jugendlichen sind in >70% der Fälle Verbrühungen ursächlich für thermische Verletzungen
- Kontaktverbrennungen wesentlich häufiger und Feuerverbrennungen deutlich seltener im Vergleich zu Erwachsenen
- Verbrennung = thermische Verletzung durch Temperaturen, welche die Regulationsfähigkeit der Haut überfordern und zu Gewebeschädigungen führen, und durch heiße Flüssigkeiten (Verbrühung), Dämpfe oder Gase, heiße Stoffe oder Kontaktflächen, Flammeneinwirkung oder Explosionen, starke Sonneneinstrahlung, elektrischen Strom oder Reibung entstehen (chemische Noxen wie Säuren oder Laugen können ähnliche Schädigungen verursachen)
- systemische Verbrennungserkrankung = Krankheitsbild ab etwa 15 % betroffener Körperoberfläche in Verbindung mit lokalen Verbrennungsfolgen (Schädigung durch inflammatorische Mediatoren –> systemisches Kapillarleck (Capillary Leakage Syndrom) mit sekundärem intravasalem Volumenmangel und potenziellem Kreislaufschock + entzündliche Allgemeinreaktion mit multiplen Organdysfunktionen –> Multiorgandysfunktion oder – organversagen
Beurteilung
- Bemessung der Verletzungsschwere über folgende Punkte:
- Prozent [%] der verbrannten Körperoberfläche [VKOF]
- Tiefenausdehnung [Grad 1 – 4]
- Lokalisation
- begleitende Verletzungen, v.a. Inhalationstrauma, bei der Beurteilung ebenso mitberücksichtigt werden, wie nicht akzidentelle Verletzungsmuster, z.B. Kindeswohlgefährdung
- Beurteilung der Ausdehnung der Verbrennung nach der Handflächenregel (Handfläche mit Fingern des Verletzten entspricht 1 % VKOF) oder nach dem Schema von Lund & Browder
- Gradeinteilung der Tiefenausdehnung einer thermischen Verletzung
Einteilung | Tiefe | Klinik |
---|---|---|
Grad 1 | epidermal | Rötung; Schwellung; starker Schmerz*; intaktes Epithel |
Grad 2a | oberflächlich dermal | Blasenbildung; feuchter hyperämischer Wundgrund; prompte Rekapillarisierung; Hautanhangsgebilde intakt; starker Schmerz* |
Grad 2b | tief dermal, Haarfollikel und Schweißdrüsenausführungsgänge mitbetroffen und teilweise zerstört | fetzenförmige Epidermolyse; Blasenbildung; weißlicher, feuchter Wundgrund; Rekapillarisierung; Hautanhangsgebilde partiell vorhanden; häufig mäßiger Schmerz* |
Grad 3 | komplett dermal | trockene, weiße, elfenbeinfarbige Hautnekrose bis hin zur Verkohlung; Verlust von Hautanhangsgebilden; keine Schmerzen* |
Grad 4 | Unterhautfettgewebe, eventuell Muskeln, Sehnen, Knochen und Gelenken | Verkohlung |
und eignet sich daher nur sehr bedingt zur klinischen Einschätzung der Verletzung
- klinische Beurteilung der Verbrennungswunden soll von in der Verbrennungsmedizin erfahrenen Ärzt*innen durchgeführt werden
- Inhalationstrauma
- BGA inkl. CO & MetHb zur näheren Verifizierung des Ausmaßes eines Inhalationstraumas
- ggf. Bronchoskopie, soweit diese notwendige intensivmedizinische Maßnahmen nicht verzögert
- Stromunfälle
- großzügige Indikationsstellung für EKG-Monitoring bei Brandverletzung nach Stromunfall
- Volumengabe mit Kristalloide soweit steigern, ggf. in Kombination mit Diuretika und/oder Alkalisierung des Urins, bis die Urinausscheidung etwa doppelt so hoch ist, wie sie bei schwerbrandverletzten Patient*innen normalerweise angestrebt wird
- erste Nekrektomie innerhalb der ersten 5 d, je nach klinischem Zustand der Patient*innen
Erstmaßnahmen
- lokale Kühlung kleinerer Verbrennungen an den Extremitäten für Zeitraum von max. 10 min mit handwarmem Wasser aus analgetischen Gründen bis zum Eintreffen der/des NÄ/NA
- unbedingte Hypothermie-Verhinderung im Rahmen der lokalen Kühlung
- keine Kühlbehandlung bei großflächigen Verletzungen über 15 % VKOF, bei Säuglingen, Neugeborenen, bei intubierten und beatmeten Patient*innen (resultierende Hypothermie signifikant mit erhöhter Letalität einhergehend
- keine Kühlbehandlung von thermischen Verletzungen im Bereich des Körperstamms und am Kopf
- weitere Auskühlung durch trockene und sterile bzw. saubere Abdeckung ggf. mit passiven Wärmedecken vermeiden
- Indikation zur Intubation erfolgt nach bekannten notärztlichen Gesichtspunkten (zu berücksichtigen sind klinische Gesamtbild, Patient*innenalter, betroffene Körperlokalisation & Ausdehnung bzw. Art der Verletzung, zu erwartende Transportdauer und zur Verfügung stehende Transportmittel
Volumengabe & Analgosedierung
- bei > 10 % betroffener VKOF Volumensubstitution mit isotonen, kristalloiden Lösungen und initial max. 10 mL/kgKG/h
- alle Manipulationen an Patient*innen mit adäquater Analgosedierung
- Dosisempfehlungen für Sedativa und Analgetika
Medikament | Dosis | Indikation | Besonderheiten |
---|---|---|---|
Midazolam | – i.v.: 0,1 mg/kgKG (ab 20 kgKG initial 2 mg) – p.o.: 0,2 – 0,4 mg/kgKG (max. 10 mg) – i.n.: 0,2 – 0,5 mg/kgKG – rectal: 0,5 – 1 mg/kgKG (max. 15 mg) | – Anxiolyse – Sedierung | i.n.: unangenehme Applikation über MAD (0,5 mL – max. 1 mL bei größeren Kindern) pro Gabe & Nasenloch |
Esketamin | – i.v.: 0,5 – 1 mg/kgKG als Bolus, dann 0,25 – 0,5 mg/kgKG als Repetition – i.n.: 2 mg/kgKG | – Sedierung – Analgesie | Kombination mit Sedativum zur Reduktion der psychomimetischen NW |
Fentanyl | – i.v.: 1 – 2 µg/kgKG – i.n.: 1 – 2 µg/kgKG | – Analgesie | – b. Bed. Wiederholen – NW: Apnoe |
Piritramid | i.v. 0,05 – 0,1 mg/kgKG als Bolus, dann 0,05 mg/kg als Repetition | – Analgesie | – Apnoe bei Repetition – Übelkeit |
Transport
- Transport sollte bei Kindern & Jugendlichen in Begleitung einer Notärztin erfolgen
- Kühlung während des Transports ist obsolet
- weiter Schutz vor Wärmeverlust und stetige Temperaturmessung (Ziel: Normothermie)
- während des Transports auf ausreichende Analgesie und ggf. Sedierung zu achten
Behandlungsrichtlinien
- Behandlungsrichtlinien richten sich nach Ausdehnung & Tiefe der Verletzungen, Lokalisation und Begleitverletzungen
- stationäre Behandlung brandverletzter Kinder & Jugendlicher sollte Zentren für schwerbrandverletzte Kinder oder spezialisierten Kliniken für brandverletzte Kinder vorbehalten sein
- Indikation zur Verlegung oder Vorstellung in einem Zentrum für schwerbrandverletzte Kinder erfolgt entsprechend der Leitlinie “Behandlung thermischer Verletzungen des Erwachsenen”
- Verbrennungen 2. Grades von 10 % und mehr der Körperoberfläche
- Verbrennungen 3. Grades von 5 % und mehr der Körperoberfläche
- Verbrennungen 2. und 3. Grades oder entsprechende Schädigung durch chemische Substanzen mit Lokalisation im Gesicht, an der Hand, am Fuß oder im Genitalbereich mit relevanter Größe und Tiefe – einschließlich der durch elektrischen Strom verursachten thermischen Schäden und über großen Gelenken.
- Inhalationstraumata, auch in Verbindung mit leichten äußeren Verbrennungen (vom Vorhandensein eines solchen ist grundsätzlich bei Explosionsunfällen auszugehen)
- thermomechanische Kombinationsverletzungen
- Verätzungen mit Laugen oder Säuren
- alle thermischen Verletzungen 4. Grades
- sofern keine Zentrumsindikationen vorliegt, sollte zumindest eine Vorstellung bzw. Verlegung in eine spezialisierte Klinik für brandverletzte Kinder erfolgen
Organisation und Verlegung in ein Zentrum für schwerbrandverletzte Kinder oder in eine spezialisierte Klinik für brandverletzte Kinder
- regional ist Rettungsdiensten die Existenz spezialisierter Kliniken für brandverletzte Kinder und Jugendliche bekannt zu machen
- Koordination auf überregionaler Ebene erfolgt über die „Zentrale Anlaufstelle für die Vermittlung von Krankenhausbetten für Schwerbrandverletzte“ der Feuerwehr Hamburg (Tel.: 040/42851-4950)
- Patientenaufnahme in Zielklinik sollte bei großflächigen thermischen Verletzungen standardisiert in vorgeheiztem Räumen (> 25 °C) stattfinden (CAVE: bei kleineren Kindern ggf. höhere Temperaturen notwendig)
Ziel der fach- und kindgerechten Behandlung des
thermisch verletzten Kindes und Jugendlichen
Grundvoraussetzung für das Erreichen aller Ziele ist die wundheilungsphasengerechte
Lokaltherapie vor dem Hintergrund eines interdisziplinären Gesamtkonzeptes mit kindgerechter Betreuung unter Einbeziehung der Familie
- Überleben sichern
- Infektion und Sepsis vermeiden
- Schmerzfreie Behandlung
- Integration der Eltern in die Behandlung
- Minimierung stigmatisierender Narben
- Wiedererlangung der vollen Beweglichkeit (Körperstrukturen und Körperfunktionen) unter Berücksichtigung des Körperwachstums
- Förderung größtmöglicher Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten, z. B. aus den Bereichen Selbstversorgung oder Mobilität
- Ermöglichen der Teilhabe am Alltagsgeschehen (in der Klinik, später zu Hause, in der Schule etc.)
- Minimierung des psychischen Traumas
Verbrennungsmedizin gelingt nur als Team Approach unter Einbeziehung sämtlicher beteiligter Fachabteilungen und Berufsgruppen in den gesamten Behandlungsprozess inklusive der Strategieplanung und entsprechender Anpassungen
weitere Therapie
- anästhesiologische Betreuung brandverletzter Kinder soll angepassten personellen (ausreichende Expertise in Kinderanästhesie) und strukturellen pädiatrischen Voraussetzungen (Narkosegerät, technische Ausrüstung, Infusionssysteme, adäquates Temperaturmanagement) entsprechen
- definitive Lokaltherapie der Verbrennungswunde richtet sich nach Tiefe der Verletzung und vorausgegangener korrekter Diagnose
- Escharotomie
- Indikationsprüfung für Escharotomie bei Verbrühungen oder Verbrennungen dritten Grades an den Extremitäten oder am Hals bzw. Rumpf, die min. 2/3 der Zirkumferenz betreffen oder zirkulär sind
- bei bestehender Indikation betroffenes Hautareal nach funktionellen Gesichtspunkten mittels definierter Schnittführung durchtrennen
- Durchtrennen des gesamten subkutanen Fettgewebes bis auf die Muskulatur ist nur in sehr seltenen Fällen notwendig (z.B. tiefe zirkuläre Verletzungen des Thorax zur Verbesserung der Beatmungssituation)
- anschließend Durchblutung regelmäßig kontrollieren
- ggf. selten zusätzliche Fasziotomie in üblicher Weise erforderlich bei V.a. Kompartmentsyndrom, v.a. auch für Starkstromverletzungen
- alternativ zur Escharotomie an den Händen bei gegebener Indikation enzymatisches Debridement erwägen (bei entsprechender Erfahrung des Teams, off label use)
- Tracheotomie
- Indikation zur Tracheotomie streng abwägen
- frühzeitige Tracheotomie nur sehr selten indiziert, vielmehr sollte, falls möglich, die Beatmungszeit per Tubus minimiert und Spontanatmung angestrebt werden
- Besonderheiten der lokalen (ambulanten) Therapie kleinflächiger und unproblematischer Verletzungen
- bei kleinflächigen und oberflächlichen thermischen Verletzungen (bis Grad 2 a) an unproblematischen Lokalisationen kann die Behandlung im ambulanten Setting erfolgen (i.d.R. Blasenabtragung, ggf. Punktierung oder Fensterung bei singulären kleinen palmaren Blasen unter sterilen Kautelen; anschließend Anlage steriler Verband)
- verwendetes Verbandsmaterial sollte zur geringeren Traumatisierung beitragen
- zeitnahe ambulante Vorstellung in Zentrum oder spezialisierten Klinik bei verzögerter Wundheilung oder Infektion sowie frühzeitig bei beginnender Narbenbildung
- Möglichkeit des Vorliegens eines Toxic Shock Syndroms bei entsprechender Klinik umgehend in Erwägung
- frühzeitiges Angebot psychotherapeutischer Mitbetreuung der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen sowie der Familien (möglichst in den 1. – 3. Tag)
Kindeswohlgefährdung
- ca. 10 % der nachgewiesenen Kindesmisshandlungen werden durch Verbrennungen oder Verbrühungen verursacht
- 1,5 – 10 % aller pädiatrischen thermischen Verletzungen sind auf Misshandlungen zurückzuführen
- prinzipiell verdächtig auf misshandlungsbedingte thermische Verletzungen sind u.a.
- Immersionsverletzungen der Extremitäten mit Handschuh-/Strumpfmuster oder des Gesäßes
- isolierte Verbrühungen des Gesäßes/des Perineums mit scharfen Begrenzungen nach cranial
- Vorliegen zusätzlicher Verletzungen ohne Bezug zur Verbrühung
- inkompatible Anamnese
- Kontaktverbrennungen mit scharf begrenzten geometrischen Mustern
- multiple Verbrennungen an unterschiedlichen Körperstellen
- bei V.a. Kindeswohlgefährdung bei Befunderhebung umgehend interdisziplinäre Kinderschutzgruppe einschalten und entsprechenden gesetzlichen Richtlinien und Handlungsempfehlungen (S3- Kinderschutzleitlinie, Vorgehen nach OPS 1-945) verfahren
- bei thermischen Verletzungen mit V.a. Kindeswohlgefährdung muss interdisziplinäre Kinderschutzgruppe hinzugezogen werden
- an spezialisierten Kliniken und Zentren für schwerbrandverletzte Kinder soll interdisziplinäre Kinderschutzgruppe vorhanden sein
- weiteres Vorgehens analog der S3 Kinderschutzleitlinie: geschilderter Unfallhergang passt nicht zum Verletzungsmuster = unklare thermische Verletzung –> medizinische Diagnostik (z.B. laut OPS 1-945) sowie Mitteilung an Jugendamt und ggf. die Polizei hinzuziehen
- folgende Fragestellungen bei Kindern & Jugendlichen mit unklaren thermischen Verletzungen beantworten (positiv beantwortete Fragen verdichten V.a. auf körperliche Misshandlung)
- Liegen weitere Verletzungen (z.B. Frakturen) vor?
- Sind vorherige Verletzungen oder Misshandlungen bekannt?
- Liegt häusliche Gewalt vor?
- Werden Geschwister für die Verletzung verantwortlich gemacht?
Grafiken
- Beurteilung der Verbrennungsausdehnung nach Lund und Browder
- Verbrennungstiefe
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