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Empfehlung „Betreuung und Versorgung von weiblichen Minderjährigen, die mutmaßlich von akuter sexualisierter Gewalt bzw. einer Vergewaltigung betroffen sind“ der DGGG

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 07.07.2022
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1055/a-1860-0562

allgemeine Grundlagen

  • Versorgung von minderjährigen Betroffenen von sexueller
    Gewalt/einer mutmaßlichen Vergewaltigung sollte interdisziplinär erfolgen
  • Räumlichkeiten mit ruhigen Atmosphäre für Erstversorgung
  • Festlegung der forensischen Dringlichkeit der Untersuchung ergibt sich in erster Linie aus zeitlichem Abstand zum Ereignis und daraus resultierender Wahrscheinlichkeit des DNA-Nachweises
    • sofortige Untersuchungen bei Adoleszenten bis 72 Stunden
    • bei präpubertären Kindern gilt Zeitfenster von bis zu 24 Stunden
  • falls Betroffene weibliches oder männliches Personal zur Versorgung vorzieht, sollte der Wunsch möglichst berücksichtigt werden
    • Untersuchung sollte immer im Beisein einer weiblichen Drittperson (medizinisches Personal) erfolgen, es sei denn, dies ist explizit von der Betroffenen nicht gewünscht
  • Vorliegen eines medizinischen Notfalls (schwere Verletzungen, Panikattacken, Dissoziation, Intoxikationen u. ä.) hat dessen Behandlung Vorrang

Umgang mit der Betroffenen

  • Anwesenheit einer Begleitperson zur Unterstützung während der Versorgung sollte der Betroffenen angeboten werden; Person darüber informieren, dass sie als Zeugin bzw. Zeuge im Falle eines Gerichtsverfahrens herangezogen werden kann
  • keine Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter bei der körperlichen und/oder gynäkologischen Untersuchung anwesend
  • alle Untersuchungsschritte der Betroffenen verständlich erklären und im Sinne des „informed consent“ durchführen
  • Betroffenen sollte einmalig und ohne darauf zu drängen die Möglichkeit der polizeilichen Anzeige erläutert werden
  • Betroffene darüber informieren, dass Untersuchung freiwillig ist, sie jederzeit Fragen stellen und die Untersuchung jederzeit beenden oder unterbrechen kann
  • etwaige (Teil-)Ablehnung der Untersuchung sowie Unterbrechungen und vorzeitige Beendigung dokumentieren
  • aktiv zuhören (validieren, die Narration der Betroffenen bestätigen, das Stressniveau im Blick behalten, beruhigend wirken, ins „Hier und Jetzt“ fokussieren, Ressourcen aktivieren, den Heilungsprozess betonen) und Ruhe und Sicherheit vermitteln
  • Kritik unterlassen, insbesondere weil durch negative soziale Reaktionen bspw. die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) gefördert werden kann

Anamnese

  • Anamneseerhebung beinhaltet allgemeine, gynäkologische sowie die Tat betreffende Anamnese
  • Anamneseerhebung sollte nicht suggestiv erfolgen (möglichst offene und „W“-Fragen: Was? Wie? Wo? Wann?) und wörtlich dokumentiert werden
  • Erfragen von Details zum Tathergang sollte sich – um die Belastung für die Betroffenen zu begrenzen – auf das für die Untersuchung, Versorgung und Spurensicherung notwendige Maß beschränken
  • Anamnese sollte folgende Punkte enthalten
    • Umstände des Übergriffs einschließlich Datum, Uhrzeit, Ort, Anzahl der beteiligten/im Raum befindlichen Personen inkl. konkreter Nachfrage, ob von (Tat-)Beteiligten (z.B. mit einem Handy) fotografiert wurde, Einsatz von Waffen, körperlicher Gewalt, Fesseln, anderen Gegenständen und sonstiger Gewalt oder Drohungen, Schilderung einer eventuellen Gewalt gegen den Hals (Würgen u. ä.) und damit verbundenem Kot- oder Urinabgang, Wahrnehmungsveränderungen, Schluckbeschwerden, Halsschmerzen, Heiserkeit und Fremdkörper- bzw. Globusgefühl
      • subjektive Wahrnehmungsveränderung im Zusammenhang mit einem Halsangriff sollen unbedingt offen erfragt werden, um die forensische Verwertbarkeit zu gewährleisten
    • Angaben zu einer evtl. bestehenden Erinnerungslücke oder Verdacht auf eine Intoxikation
    • Angaben zu oralen, vaginalen oder anorektalen Kontakten oder zur Penetration sowie zum Auftreten oder Fehlen einer Ejakulation und/oder der Verwendung eines Kondoms durch den Täter
    • Informationen zu Blutungen bei Täter, Täterin oder Betroffener; diese können für die Beurteilung des Risikos einer Hepatitis- oder HIV-Übertragung relevant
    • Angaben zu einvernehmlichen sexuellen Aktivitäten vor oder nach dem Übergriff, einschließlich Details über die Stelle des Kontakts (oral, genital, anorektal) und die Verwendung von Kondomen
    • Informationen dazu, ob sich die Betroffene seit dem Übergriff abgewischt, geduscht, gebadet hat oder ob sie die Kleidung gewechselt, etwas gegessen, Zahnpasta oder Mundwasser benutzt, Einläufe gemacht, einen Tampon, eine Binde oder ein Barriere-Kontrazeptivum gewechselt oder entfernt hat
    • Dokumentation aktuell bestehender Beschwerden/Schmerzen bei der Betroffenen

medizinisch-forensische Untersuchung

  • Einverständniserklärung der Betroffenen ist die Voraussetzung für eine medizinisch-forensische Untersuchung
  • wenn die Betroffene nicht einwilligungsfähig ist, bspw. im Falle einer Intoxikation, darf medizinisch-forensische Untersuchung erst dann erfolgen, wenn die Einwilligungsfähigkeit wieder gegeben ist, alternativ muss die Einwilligung einer betreuenden Person (z.B. bei psychiatrischen Erkrankungen) oder ein richterlicher Beschluss (bspw. bei Patientinnen im Koma) vorliegen
  • Betroffene sollten – wenn sie diese planen – ermutigt werden, forensische körperliche Untersuchung so schnell wie möglich nach dem Übergriff durchführen zu lassen
  • medizinische Versorgung sollte möglichst im Anschluss an die medizinisch-forensische Untersuchung
  • falls von der Betroffenen Untersuchung zwar im Moment abgelehnt wird, aber prinzipiell eine medizinisch-forensische Untersuchung geplant ist, darüber informieren
    • bis zur Untersuchung Bäder/Duschen/Umkleiden zu vermeiden
    • Kondome, falls verwendet, aufzubewahren
    • Essen, Trinken, Rauchen zu vermeiden, wenn der Übergriff orale Penetration beinhaltete
    • aktuell verwendete Tampons o.ä. vaginal zu belassen
    • ersten/nächsten Urin in einem sauberen, verschließbaren Behältnis aufzufangen

medizinische Versorgung

  • körperliche Verletzungen adäquat erfassen, dokumentieren und versorgen
  • Tetanus-Impfstatus erheben und falls indiziert, sollte Impfung erfolgen
  • nach Gewalt gegen den Hals (Würgen/Drosseln) HNO-ärztliche Untersuchung veranlassen; zusätzliche Durchführung eines CT oder MRT in Ausnahmefällen nötig, sollte nur bei medizinischer Indikation erfolgen
  • Betroffenen im reproduktionsfähigen Alter sollte die Durchführung eines Schwangerschaftstests (im Urin) anbieten
  • Betroffenen im reproduktionsfähigen Alter ggf. eine Notfallkontrazeption anbieten

psychische und psychosoziale Versorgung

  • Beziehung aufbauen, Sorgen und Bedürfnisse erfragen
  • Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten eruieren
  • kurzfristige Entlastung unterstützen (Wer aus dem Umfeld kann unterstützen, an welche Beratungsstelle kann verwiesen werden?)
  • (akute) Schutzbedürftigkeit abklären und die Schutzmöglichkeiten der Betroffenen, vor allem bei sexualisierter Gewalt in Paarbeziehungen und im engeren oder weiteren Nahbereich eruieren
    • Betroffene in sichere Umgebung entlassen, idealerweise in Begleitung einer Vertrauensperson
  • Betroffene im Sinne einer Psychoedukation über möglicherweise auftretende psychische Reaktionen wie belastende Erinnerungen an das Ereignis, sog. Flashbacks, überwältigende Gefühle und Phasen emotionaler Taubheit, Dissoziation sowie Steigerung des Erregungsniveaus mit Schlafstörungen informieren
  • Risikofaktoren für höhere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung längerfristiger psychischer Symptomatik (z.B. Tatverdächtige sind aktuelle oder ehemalige Intimpartner, vorbestehende psychische Erkrankungen, traumatische Erlebnisse wie psychische, körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen in der Vergangenheit)
  • Verordnung von Benzodiazepinen sollte möglichst nicht erfolgen, da sie nicht der Prävention, sondern eher der Chronifizierung einer Traumafolgestörung dienen
Published inIm Notfall PsychiatrieLeitlinien kompakt

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