veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 19.12.2023
Ablaufdatum: 18.12.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-077
Grundsätzliches
- exakte wissenschaftliche Bezeichnung lautet Kopfschmerz vom Spannungstyp und nicht Spannungskopfschmerz (zur Abgrenzung von muskuläre Verspannungen oder psychischer Anspannung, da nur untergeordnete oder gar keine Relevanz)
- Kopfschmerz vom Spannungstyp (KST) ist häufigste primäre Kopfschmerzart
Epidemiologie
- Prävalenz bei Erwachsenen von bis zu über 80 %
- Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen von bis zu über 20 %
- Prävalenzen für cKST reicht von bis zu 5 % bei Erwachsenen und bis zu 2 % bei Kindern
- globale 1-Jahres-Prävalenz des KST auf etwa 25,5 % geschätzt (CAVE: in Europa > 50 %)
- 1-Jahres-Prävalenz für Deutschland (RKI) für KST von 10,3 % für Frauen & 6,5 % für Männer
- Frauen häufiger betroffen (Faktor von 1,3 bei KST und Faktor von 2,6 bei cKST)
- globale Prävalenz chronische KST: ca. 2 – 3 % (in Deutschland: ca. 0,5 %)
- 3-Monats-Prävalenz von 4,5 % für KST bzw. von 15,7 % für wahrscheinlichen KST bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland
- globale 3-Monats-Prävalenz für KST von 31 % bei Kindern (Spannweite 10 – 72 %)
- durchschnittliches Alter bei KST-Erstmanifestation: 25. – 30. Lebensjahr (Prävalenzgipfel um das 40. Lebensjahr)
- v.a. psychiatrische Erkrankungen wie Depression, Angsterkrankungen & Schlafstörungen (Depression & Angststörung auch assoziiert mit Frequenz und Schwere)
Pathophysiologie
- Heritabilität von KST von 19 – 48 %
- Hinweise auf stärkere familiäre Aggregation bei Patient*innen mit häufigem eKST oder cKST
- Risikoerhöhung bei S/S-Genotyp der 5-HTT-genlinked polymorphic Region (5-HTTLPR)
- „normaler“ Kopfschmerz ist i.d.R. physiologische Reaktion auf adäquaten Reiz (z.B. grippaler Infekt, Bagatelltrauma, Schlafentzug, Alkoholkonsum) und üblicherweise holokraniell von eher drückendem Charakter, niedriger oder moderater Intensität und ohne typische Begleitsymptome –> „normaler“ Kopfschmerz ist also KST-artiger Kopfschmerz
- anerkanntes pathophysiologisches Konzept zur Entstehung von KST als Erkrankung fehlt bislang
- bei einigen Autor*innen ist pathogenetische Abgrenzung zur Migräne umstritten
Symptomatik
- i.d.R. milder bis mittelschwerer holozephaler Kopfschmerz mit dumpf-drückendem Charakter (beschrieben als „zu enger Hut“, „schraubstockartig“ oder wie „ein Band um den Kopf herum“)
- keine oder nur gering ausgeprägte vegetative Begleitsymptome (ggf. leichte Lärm- oder Lichtempfindlichkeit, v.a. bei chronischen Verlaufsformen; Erbrechen fehlt völlig)
- i.d.R. keine Verschlimmerung bei körperlicher Betätigung
- Kopfschmerzdauer: sehr variabel, mit Dauer von 30 min bis zu 7 d
Einteilung
- selten auftretende eKST (< 12 Tage im Jahr)
- häufig auftretende eKST (min. 1 d, max. 14 d pro Monat bzw. min. 12 und max. 180 d im Jahr)
- chronischen Kopfschmerz vom Spannungstyp; cKST (min. 15 Kopfschmerztage/Monat seit min. 3 Monaten)
Diagnosekriterien
ICHD-3-Kriterien selten auftretender Kopfschmerz vom Spannungstyp
- A: min. 10 Kopfschmerzattacken, die im Durchschnitt weniger als 1-mal im Monat auftreten (< 12 Kopfschmerztage pro Jahr) und die Kriterien B bis D erfüllen
- B: Kopfschmerzdauer liegt zwischen 30 min und 7 d
- C: Kopfschmerz weist min. 2 der folgenden Charakteristika auf
- beidseitige Lokalisation
- Schmerzqualität drückend oder beengend, nicht pulsierend
- leichte bis mittlere Schmerzintensität
- keine Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten wie Gehen oder Treppensteigen
- D: beide der folgenden Punkte sind erfüllt
- Fehlen von Übelkeit oder Erbrechen
- entweder Photophobie oder Phonophobie, nicht jedoch beides vorhanden
- E: nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose
ICHD-3-Kriterien häufig auftretender Kopfschmerz vom Spannungstyp
- A: wenigstens 10 Kopfschmerzepisoden, die die Kriterien B bis D erfüllen und durchschnittlich an 1 bis 14 d/Monat für > 3 Monate (≥ 12 und < 180 d/Jahr) auftreten
- B: Kopfschmerzdauer liegt zwischen 30 min und 7 d
- C: Kopfschmerz weist min. 2 der folgenden Charakteristika auf
- beidseitige Lokalisation
- Schmerzqualität drückend oder beengend, nicht pulsierend
- leichte bis mittlere Schmerzintensität
- keine Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten wie Gehen oder Treppensteigen
- D: beide der folgenden Punkte sind erfüllt
- Fehlen von Übelkeit oder Erbrechen
- entweder Photophobie oder Phonophobie, nicht jedoch beides vorhanden
- E: nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose
ICHD-3-Kriterien chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp
- A: Kopfschmerz, der die Kriterien B und D erfüllt, und an durchschnittlich ≥ 15 d/Monat über 3 Monate (≥ 180 d/Jahr) auftritt
- B: Kopfschmerz hält für Stunden bis Tage an oder ist kontinuierlich vorhanden
- C: Kopfschmerz weist mindestens 2 der folgenden Charakteristika auf
- beidseitige Lokalisation
- Schmerzqualität drückend oder beengend, nicht pulsierend
- leichte bis mittlere Schmerzintensität
- keine Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten wie Gehen oder Treppensteigen
- D: beide der folgenden Punkte sind erfüllt
- höchstens eines vorhanden: leichte Übelkeit oder Photophobie oder Phonophobie
- weder Erbrechen noch mittelstarke bis starke Übelkeit
- E: nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose
Differentialdiagnosen
- wichtigste Differenzialdiagnose in der Gruppe der primären Kopfschmerzen ist die Migräne
- bei täglichen Kopfschmerzen auch Hemicrania continua und neu aufgetretene tägliche anhaltende Kopfschmerzen (new daily persistent headache) als primäre Kopfschmerzen mgl.
- Sinusitis frontalis
- idiopathische intrakranielle Hypertension (Pseudotumor cerebri)
- spontanes Liquorunterdrucksyndrom
- posttraumatischer Kopfschmerz
- Dissektion der A. carotis oder der A. vertebralis
- zerebrale Raumforderung
- intrazerebrale Blutung (z.B. chronisches subdurales Hämatom)
- Meningitis/Enzephalitis
- Riesenzellarteriitis oder ZNS-Vaskulitis
- medikamentös bedingte Kopfschmerzen
- chronische systemische Entzündungen (z.B. Malaria)
- Myoarthropathien der Kaumuskulatur, kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
- chronisches Glaukom
- Schlaf-Apnoe-Syndrom
- arterieller Hypertonus
- Depressionen
Therapie
- 1.000 mg Paracetamol (CAVE: Agranulozytose & Analgetika-Asthma)
- 500 – 1.000 mg Acetylsalicylsäure (CAVE: Magen-Darm-Beschwerden, Blutungen, Überempfindlichkeitsreaktionen bei Asthmatiker*innen
- 400 – 800 mg Ibuprofen (CAVE: GI-Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe, Verstopfung)
- 25 – 50 mg Ketoprofen (CAVE: GI-Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe, Verstopfung)
- 375 – 550 mg Naproxen (CAVE: GI-Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe, Verstopfung)
- 12,5 – 25 mg Diclofenac (CAVE: GI-Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe, Verstopfung)
- 60 mg Ketorolac (i.m.; CAVE: GI-Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe, Verstopfung)
- 500 – 1.000 mg Metamizol (CAVE: Hypotension, Agranulozytose, Analgetika-Asthma)
- CAVE: häufige Anwendung von Akutmedikamenten erhöht die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen und von toxischen Wirkungen (z.B. auf Nieren oder Leber) sowie das Risiko für die Entwicklung eines Kopfschmerzes durch Medikamentenübergebrauch (Höchsteinnahme von 10 Tagen pro Monat bei Kombinationspräparate bzw. 15 Tagen pro Monat bei einfachen Analgetika wie ASS, Ibuprofen oder Paracetamol)
- keine kontrollierten wissenschaftlichen Studien vorliegend für andere Verfahren/Hilfsmittel wie Wärmebehandlungen, bestimmte Nahrungs(ergänzungs)mittel oder sexuelle Aktivität
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